taibo1Radiografie eines "schmutzigen Konflikts"

Carlos Taibo, ehemaliger linker Hochschullehrer aus Madrid, ist ein profunder Kenner der postsowjetischen Geschichte. Nach seiner Ansicht gibt es wenig Gewissheiten über den Krieg in der Ukraine. Der Politik-Wissenschaftler und Schriftsteller räumt ein, dass er nicht in der Lage ist, endgültige Schlussfolgerungen zu ziehen. Aber er bietet Hinweise, die über den momentanen Konflikt hinausgehen. In Donostia wurde Carlos Taibo zu einer Informations-Veranstaltung empfangen, die bestens besucht war.

Kritische Thesen des renommierten Politik-Wissenschaftlers und Schriftstellers Carlos Taibo zum in der Ukraine stattfindenden Krieg zwischen westlichen Staaten und Russland.

Eigentlich war es kein neues Buch, dass der ehemalige Hochschullehrer für Politik-Wissenschaften bei der Konferenz in Donostia vorstellte. Denn das Buch "Russland gegen die Ukraine" ist in Wirklichkeit die überarbeitete Fassung eines 2014 erschienenen Werks von Carlos Taibo. Angesichts der massiven anti-russischen Propaganda, die im Westen derzeit zu verzeichnen ist und des politischen Aufwindes, den ausgerechnet die NATO mit ihren neuen Militärstrategien erlebt, war das Interesse an einer kritischen Kommentierung des Konflikts in Donostia groß: der Versammlungsraum der Stadtbibliothek wurde zu klein, so viele kamen, um den im Baskenland überaus geschätzten kritischen Intellektuellen zu hören. (1)

Für Taibo als Kenner der postsowjetischen Welt ist klar, dass wir es mit einem "schmutzigen Konflikt" zu tun haben. Eine Art von Konflikt, "an den wir uns gewöhnen müssen und bei dem der kriminelle Lebenslauf aller Beteiligten sehr zu wünschen übriglässt". Der Autor sieht keine "Konflikte wie in Palästina oder der Sahara" am Horizont. In der Folge erklärte er, was er unter “Schmutzigen Konflikt“ versteht, dass es auf verschiedenen Seiten eine Verantwortung dafür gäbe, sie allerdings nicht vergleichbar seien.

Keine Alleinschuld

taibo2Taibo (2) erinnerte zunächst daran, dass Russland "in seinen Beziehungen zur westlichen Welt fast alles versucht hat". Trotz seiner Unterstützung für die US-Invasion in Afghanistan und seines "komplizenhaften Schweigens" angesichts des US-Krieges im Irak, wurde Russland mit dem Raketen-Schutzschild, der NATO-Erweiterung und der Unterstützung der USA "für die so genannten Orange Revolutionen" in Georgien und der Ukraine konfrontiert (3). "Moskau hatte keine andere Wahl, als die Karten neu zu mischen und eine unabhängige Außenpolitik zu verfolgen", fügte er hinzu und schloss, dass "der Putin dieser Tage zu einem nicht unerheblichen Teil das Produkt der Aggressivität der westlichen Mächte ist".

Taibo räumte ein, dass in seinen Analysen des Krieges in der Ukraine die Zuweisung der Verantwortung an die NATO überwiegt. Er rechtfertigte diese Tendenz damit, dass "alle, die es wagen, zu behaupten, dass der Westen etwas mit diesem Krieg zu tun habe, zensiert werden". "Was wäre, wenn den USA feindlich gesinnte Kräfte in Kanada oder Mexiko eintreffen und ihre Absicht ankündigen würden, sich einer feindlichen Militärallianz anzuschließen?“, fragte Taibo sarkastisch. “Würden die USA zivilisierter, besonnener und ruhiger reagieren als Putins Russland mit seiner inakzeptablen Art?“

Russland heute

Ein Russland, gegen das er sich laut und deutlich aussprach. Seine Definition: "Ein erbärmliches Durcheinander von imperial-militärischen Impulsen, ethnisch begründetem Nationalismus, der Verteidigung traditioneller Familienwerte und der orthodoxen Kirche, gepaart mit dem zutiefst unmoralischen Universum der Oligarchen, die ihr Vermögen auf dem Rücken einer betrügerischen Privatisierung der lukrativsten Elemente der (russisch-sowjetischen) Volkswirtschaft im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert zusammengeraubt haben“. Ironischerweise betonte er: "Wenn es Putins Ziel ist, die Ukraine zu ent-nazifizieren, ist es geradezu paradox, dass es ihm gelingt, die Ukraine zu re-nazifizieren". Tatsache sei, dass das, “was auf der anderen Seite der russischen Grenze liegt, alles andere als anregend ist".

Nachdem er jedoch "die legitime Sichtweise dessen, wer als Aggressor (Russland) und wer als Angegriffener (Ukraine) identifiziert wird" als verständlich bezeichnete, warnte Taibo, dass der Konflikt von westlichen Mächten und in westlichen Medien in ausschließlich schwarzen und weißen Farben interpretiert wird, was einer derben Manipulation gleichkommt: der Konflikt werde “als eine Art Märchen dargestellt: die russische Armee als Aggressoren, und auf der anderen Seite der Frontlinie eine ukrainische Nonne der Nächstenliebe".

Nützliche Phobien

In diesem Zusammenhang prangerte er das Aufkommen einer "beunruhigenden Russland-Phobie an, die zuweilen eine nicht weniger beunruhigende Ukraine-Phobie provoziert". An dieser Ukraine-Phobie beteiligt er sich nicht, was ihn aber nicht daran hindert, den Niedergang in dem krisengeschüttelten Land zu kritisieren. Zur lokalen Korruption ("2014 war die Ukraine das am stärksten monetarisierte Parlament der Welt") kam damals das Ende der Politik des "Brückenschlags zwischen Westeuropa und dem russischen Europa" hinzu, die von der Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung in den Umfragen verteidigt worden war. "Ein Projekt, das leider weder die einen noch die anderen haben gedeihen lassen", beklagte er.

Taibo analysierte die Maidan-Revolte von 2014, bei der er zwei sehr unterschiedliche Strömungen feststellte: "Kritische soziale Bewegungen, die zu Recht gegen die Korruption des Systems protestierten, an dessen Spitze damals der prorussische Viktor Janukowitsch stand“; und auf der anderen Seite "rechtsextreme Gruppen, die immer stärker wurden und sich schließlich in vielen Machtstrukturen und insbesondere in den Streitkräften etablierten".

taibo3Aber "die Ukraine als ein Land zu bezeichnen, das unauslöschlich durch den ideologischen Code der extremen Rechten geprägt ist, ist ein Fehler. Dies gilt umso mehr, als es derzeit keine rechtsextreme Kraft im ukrainischen Parlament gibt. Wie dies in Spanien der Fall ist". Dies hinderte ihn nicht daran, daran zu erinnern, dass der Ausbruch des Krieges im Donbass im Jahr 2014 mehr als 14.000 Tote forderte, "zumeist verursacht durch den wahllosen Beschuss der ukrainischen Armee auf die lokale Bevölkerung".

"Es handelt sich um eine Art von Konflikt, bei dem alle Beteiligten ein beachtliches Strafregister aufzuweisen haben. Dies ist nicht Palästina oder die Westsahara". Nachdem er einen schmutzigen Konflikt ausgemacht und Verantwortlichkeiten zugewiesen hatte, stellte Taibo mehrere offene Hypothesen zur Erklärung der russischen Intervention in der Ukraine auf.

Mögliche Interventionsgründe

Zwei wären wirtschaftlicher Natur. Die erste wäre der Versuch Russlands, "angesichts der schlechten Wirtschaftslage in den letzten zehn Jahren eine schnelle und erfolgreiche Intervention zu versuchen, um die innere Unzufriedenheit zum Schweigen zu bringen". Die zweite, als Ergänzung, wäre eine Beschuldigung gegen Moskau, "die Kontrolle über ukrainische Rohstoffe zu übernehmen, die zwar nicht die Energie betreffen, aber dennoch schmackhaft sind". Weder das eine noch das andere überzeugt ihn, denn das russische Wirtschaftsszenario sei zwar schlecht, "aber nicht düster". - "Russland fehlt es an vielem, aber nicht an Rohstoffen, in dieser Hinsicht ist es immer noch das bei weitem reichste Land der Erde".

Auch die dritte Erklärung, eine psychologisch-persönliche, die Putin als "Opfer einer imperialen militärischen Eiterbeule" darstellt, lässt er nicht gelten. "Der Entscheidungsprozess im komplexen Russland ist schwierig und umfasst politische, wirtschaftliche und militärische Macht. Es fällt schwer, der These Glauben zu schenken, dass das Verhalten einer einzelnen Person, egal wie stark die Macht auf diese Person konzentriert ist, alles erklärt".

Die Verschwörungsthese, wonach Russland "den Köder des Westens geschluckt hätte, um das Land zu destabilisieren und vielleicht Putin zu stürzen“ hält Taibo schon für wahrscheinlicher. Er räumt jedoch ein, dass ein solches Szenario voraussetzen würde, "dass der Westen bereit ist, große Risiken einzugehen".

Die fünfte Hypothese ist noch konspirativer und besagt, dass "ein großer Teil der Führung des FSB (Russischer Geheimdienst, russische Abkürzung) seit drei Monaten festgehalten wird, weil falsche oder fehlerhafte Informationen über das Potenzial der ukrainischen Armee geliefert wurden". Diese Version wird in der ultrarechten spanischen Presse kolportiert (zum Beispiel bei La Razon).

All dies überschneidet sich mit der Unkenntnis des Westens über die militärischen Ziele Russlands in der Ukraine, die Taibo als Hypothese vorlegt. Würde Russland sich mit der Krim und dem Donbass zufrieden geben, indem es beide Regionen miteinander verbindet, was bereits geschehen ist, und der Ukraine den Zugang zum Asowschen Meer wegnehmen? Wird Russland weiter gehen und die Ukraine den Zugang zum Schwarzen Meer nehmen?

Von den Verhandlungen, "die trotz allem noch andauern", werden anonym bewusst Fragmente an die Medien gegeben. Danach beansprucht Russland die Souveränität über die Ostukraine und die Krim. Aber: "wo beginnt die Ostukraine? Östlich des Dnjepr?“ Dasselbe gilt für den Neutralitätsstatus, den Russland von der Ukraine fordert, die bereits auf die NATO-Mitgliedschaft verzichtet hat: "Neutralität nach dem Vorbild Finnlands oder nach dem Muster des unterwürfigen Weißrusslands?"

"Die NATO trägt ihren Teil der Verantwortung, das aggressive Russland ist alles andere als ein Vorbild, und die ukrainische Armee ist keine Wohltätigkeits-Nonne".

Viele Fragen und zwei endgültige Verurteilungen von Taibo. Erstens: "Wenn Russland ein Modell für die Ukraine wie das finnische akzeptieren würde, hätten wir eine Grundlage für eine vernünftige Lösung des Konflikts. Dies gilt umso mehr, wenn sie mit vertrauensbildenden Maßnahmen und einer Entmilitarisierung in der Ukraine, in Osteuropa und natürlich in Russland selbst einhergehen würde".

taibo4Carlos Taibo räumt ein, dass "die USA offenbar nicht daran interessiert sind, dass dieser Krieg beendet wird". Er weist aber darauf hin, dass "allen Akteuren vor Ort das Wasser bis zum Halse steht". Der Ukraine, weil ihre Truppen an der Ostfront konzentriert sind und "wenn Russland die Linie an einigen Flanken konsequent durchbrechen würde, könnte es große Gebiete kontrollieren". Russland, "weil die Operationen nicht wie geplant verlaufen" und weil, selbst bei einem positiven Verlauf aus russischer Sicht, man "nicht wüsste, was man mit den meist offen feindlich gesinnten Gebieten anfangen soll". Nicht zu vergessen, dass im Gegensatz zu 2014 "die Sanktionen wichtige Bereiche der Wirtschaft betroffen haben" und der Druck der Superreichen, "die gesehen haben, dass der Krieg einen großen Teil ihrer Geschäfte ruiniert hat".

Und schließlich ist da noch "die emotionale Wirkung der Bilder ukrainischer Großmütter, die vor dem Beschuss fliehen, auf einfache Russen". "Die Ukraine ist nicht Tschetschenien", weder für die Menschen im Westen, für die "jene eher dunkel und muslimisch waren", noch für die Russen, die ein ähnliches Aussehen haben wie die Ukrainer. "Wir wissen nicht, was die einfachen Russen denken, abgesehen von den Umfragen inmitten von Zensur und Repression". Unbekannt ist außerdem, "was mit den Leichen der russischen Soldaten geschieht und wie viele gestorben sind".

Kleineres Übel?

Taibo beendete seine Konferenz mit dem Hinweis, dass die "Westmächte beginnen, die Ohren des Wolfs zu sehen" und eine Destabilisierung des größten Staates der Welt befürchten. Mit der Ergänzung, dass es sich um eine große nukleare Militärmacht handelt, in der "ein Staatsstreich oder internes Säbelrasseln in der militärischen Führung dazu führen könnte, dass der Westen am Ende auf Putin als kleineres Übel setzt". Das Dilemma für den Westen sei die Alternative zwischen “einem starken Russland, das in seinem Hinterhof für Ordnung sorgt, oder einem schwachen Russland, das eine Makro-Operation der Ausbeutung erlaubt".

Aber das eigentliche Dilemma oder Schicksal, in diesem Fall nicht für den Westen, sondern für die Welt, ist der totale Zusammenbruch, "der sich aufgrund des Klimawandels und der Erschöpfung der Energie-Rohstoffe abzeichnet". Denn "wer glaubt, dass der dramatische Anstieg der Kraftstoff- und Lebensmittelpreise auf den Krieg in der Ukraine zurückzuführen ist, der irrt gewaltig". Aber das ist eine andere Geschichte. Oder auch nicht.

ANMERKUNGEN:

(1) "Carlos Taibo y la guerra en Ucrania: Radiografía de un conflicto sucio” (Carlos Taibo und der Ukraine-Krieg. Radiografie eines schmutzigen Konflikts), Tageszeitung Gara, Dabid Lazkanoiturburu, 2022-07-12 (LINK)

(2) Carlos Taibo (*1956) ist ein überzeugter Verfechter der Anti-Globalisierungs-Bewegung, der direkten Demokratie und des Anarchismus. Taibo prägte den Ausdruck “Die Globalisierung steuert auf ein unkontrollierbares Chaos zu“. Er kritisiert vehement die Vorstellung, dass Wirtschafts-Wachstum mit Fortschritt und Wohlstand verbunden ist, weil es sich auf alle Bereiche (sozial, wirtschaftlich und politisch) auswirkt. Diese Behauptung, dass Wirtschaftswachstum mit Fortschritt und sozialem Wohlstand verbunden ist, wird von Kapitalismus-Kritikern häufig in Frage gestellt. Carlos Taibo ist seit ihrer Gründung im Jahr 2006 Mitglied der sozialistischen Zeitschrift “Sin Permiso“ (Ohne Erlaubnis). Er ist Autor von mehr als dreißig Büchern in spanischer und galicischer Sprache, die sich zumeist mit den politischen Übergängen im heutigen Mittel- und Osteuropa befassen sowie mit geopolitischen Themen im Allgemeinen. (LINK)

(3) Orange Revolution (LINK)

ABBILDUNGEN:

(1) Carlos Taibo (Collage FAT)

(2) Ukraine (spiegel)

(3) Carlos Taibo (hoy)

(4) Ukraine (tagesschau)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-07-12)

Für den Betrieb unserer Webseite benutzen wir Cookies. Wenn Sie unsere Dienstleistungen in Anspruch nehmen, akzeptieren Sie unseren Einsatz von Cookies. Mehr Information