chile1Chiles neue Verfassung

Chile führt in seiner neuen Verfassung ein avant-gardistisches "Recht auf Erinnerung" ein. Erinnerung als Pflicht und Erinnerung als Recht sind die Säulen von Artikel 24 der neuen chilenischen Verfassung, die in Kürze zur Volksabstimmung steht. Mit diesem Kapitel macht Chile einen qualitativen Sprung bei der Wiedergutmachung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Zustandekommen dieser Formulierung spiegelt den Kampf der Opfer gegen die Diktatur, das Vergessen und die Straflosigkeit wider.

Nach langen Protesten von Studierenden und der Wahl eines neuen linken Regierungschefs soll in Chile eine neue Verfassung verabschiedet werden: mit dem Recht auf Erinnerung als Grundpfeiler.

Der aus fünf Paragraphen bestehende Abschnitt, in dem das “Recht auf Erinnerung“ verankert ist, wurde in der Debatte des Verfassungs-Konvents mit 111 Ja-Stimmen, 16 Enthaltungen und 23 Gegenstimmen angenommen. Der Verfassungs-Konvent ist ein Gremium, das sich aus 154 gleichberechtigten Vertreterinnen und Vertretern zusammensetzt und damit beauftragt ist, ein neues Grundgesetz für das Land auszuarbeiten, nachdem die aus der Diktatur stammende Verfassung zuerst auf der Straße und dann an den Wahlurnen begraben wurde. (1) Diese Definition von “Erinnerung“ steht im Mittelpunkt der Kampagne, die von mehr als 200 Menschenrechts-Organisationen für die Annahme des Grundgesetz-Vorschlags in der Volksabstimmung in Chile am 4. September 2022 geführt wird.

Gedächtnis und Nicht-Wiederholung

Der Artikel, für den sich vor allem Gruppen von Angehörigen und Opfern der Diktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) eingesetzt haben, legt auch das "Recht auf Aufklärung und Wahrheitsfindung (...) fest, insbesondere, wenn es sich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Völkermord oder Gebiets-Enteignungen handelt".

Gleichzeitig wird festgelegt, dass solche Verbrechen, einschließlich des Verschwindenlassens von Personen, die während der Diktatur von Staatsbeamten systematisch begangen wurden, "niemals verjähren und kein Gegenstand von Amnestie sein können". (Dasselbe ist bereits in der Internationalen Menschenrechts-Deklaration festgelegt, die zwar von der großen Mehrheit der Staaten ratifiziert wurde, aber nicht überall ausreichend respektiert wird.)

"Der Staat garantiert das Recht auf Erinnerung und seine Verantwortung für die Garantie der Nicht-Wiederholung und dem Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und vollständige Wiedergutmachung", heißt es im fünften Absatz des Kapitels. "Die ausdrückliche Anerkennung des Rechts auf Erinnerung und seine Beziehung zu den Garantien der Nichtwiederholung in Bezug auf staatliche Verbrechen ist ein großer Schritt nach vorn. Ein Grund mehr, die neue Verfassung anzunehmen", erklärte Gloria Elgueta, Philosophin und Mitglied der Arbeitsgruppe Espacio de Memorias London 38 (Erinnerungs-Raum London 38) gegenüber einer Presseagentur.

"In Anbetracht der derzeitigen prekären Lage der Archive und Erinnerungsstätten muss deren Einführung von den notwendigen Mitteln und Mechanismen begleitet werden, die die Wahrnehmung dieses Rechts auf Erinnerung ermöglichen. Wir haben hervorgehoben, wie wichtig es ist, dieses Recht nicht auf einen zeitlichen Rahmen oder eine einzige historische Periode zu beschränken. Die Arbeit an der Erinnerung ist immer ein offener Prozess und somit eine Quelle des Lernens und der Phantasie für neue Zukunfts-Perspektiven", fügte sie hinzu.

Orte der Erinnerung

chile2Nach Angaben von Álvaro Ahumada, Vorsitzender des Verwaltungsrats des Friedensparks “Villa Grimaldi“, gibt es landesweit etwa 1.600 Gedenkstätten oder Orte, an denen während der Diktatur Menschenrechts-Verletzungen begangen wurden. Doch nur sieben davon werden vom Staat finanziell unterstützt. "Das ist unhaltbar. Seit 1990 versuchen wir, diese Orte zurückzugewinnen. Es ist erwähnenswert, dass Villa Grimaldi die erste Stätte in Lateinamerika ist, die von zivilgesellschaftlichen Organisationen und nicht vom Staat zurückgeholt wurde", stellt Ahumada fest.

"Wir haben uns als private Verbände organisiert, über Projekte und Finanzierungen versuchen wir, finanzielle Mittel zu erschließen. Der Staat garantiert dies nicht, deshalb haben wir dafür gekämpft, dass die Pflicht zur Erinnerung in die neue Verfassung aufgenommen wird", betont sie.

Villa Grimaldi

Die Villa Grimaldi war in den ersten Monaten nach dem Pinochet Militärputsch vom 13. September 1973, der die demokratische Regierung von Salvador Allende stürzte (1970-1973), als "Cuartel Terranova" (Terranova-Kaserne) bekannt. Es handelte sich um einen luxuriösen Erholungsort am Fuße des Gebirges, den Pinochets politische Polizei in ein Zentrum für Folter, Inhaftierung, Vernichtung und Verschwindenlassen verwandelte.

Für Alejandra Holzapfel, die Präsidentin der “Asociación de Memoria y Derechos Humanos Venda Sexy“ (Vereinigung für Erinnerung und Menschenrechte Venda Sexy), ist das Recht auf Erinnerung "enorm wichtig dafür, dass die neuen Generationen alles erfahren, was während der Diktatur geschah. Das Gebäude “Venda Sexy“ in der Iran Straße 3037 in Santiago de Chile zum Beispiel muss zurückerobert werden und darf nicht in Vergessenheit geraten", sagt Alejandra.

In jenem Haus in der Iran Straße 3037, im Stadtteil Macul, im Herzen der chilenischen Hauptstadt, wurde ein Kommando des Nationalen Nachrichtendienstes (DINA) eingerichtet, in dem kaum vorstellbar grausame Folterungen praktiziert wurden. Dabei kam es immer wieder zu sexuellen Übergriffen gegen gefangene Frauen und Männer. Heute befindet es sich in den Händen einer Privatperson, die den Zugang verweigert und bauliche Änderungen vorgenommen hat, beklagt Alejandra Holzapfel.

Folterzentrum

chile3In Chile war einer der Schritte in der repressiven Politik der Militärdiktatur Pinochet (1973-1990) die Gründung der DINA, die zusammen mit anderen Geheimdiensten massive Menschenrechts-Verletzungen beging. Ihre Hauptfunktion war Terror gegen all jene, die mit der gestürzten Allende-Regierung in Verbindung gestanden oder von linker Ideologie waren. Militante, Sympathisant*innen, Führer, Familienangehörige … wurden zwischen 1974 und 1977 in den gefürchteten Folterkellern unsäglichen Folterungen unterzogen, bei denen den Gefangenen physische, psychische und sexuelle Gewalt angetan wurde. Diese vielförmige Gewalt endete nicht mit dem Ende der faschistischen Diktatur, sondern wurde vielmehr Teil der sozialen Realität. Auf diese Weise sollte eine soziale Kontrolle installiert werden, mit deren Hilfe bürgerliche und politische Freiheiten durch Terror-Herrschaft unterdrückt und Menschenrechte unsichtbar gemacht werden. (2)

"Ohne Erinnerung kein Neuaufbau"

Die “Agrupación de Familiares de Detenidos Desaparecidos“ (AFDD, Verband der Angehörigen von verschwundenen Häftlingen) war eine der Organisationen, die sich für die Aufnahme der Erinnerungs-Klausel in den aktuellen Verfassungs-Vorschlag eingesetzt haben. Die Präsidentin des Vereins, Gaby Rivera: “Erinnerung ist ein großes Wort, ein so wichtiges Wort … das bedeutet, die einzige Möglichkeit, unsere Angehörigen und die Überlebenden nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, besteht darin, sich zu erinnern. Zu sagen: das ist geschehen, es ist Teil von uns". - "Jede und jeder von uns hat das Recht, sich an das Geschehene zu erinnern. Ein Land ohne Erinnerung kann nichts aufbauen, ohne Wahrheit und Gerechtigkeit ist es sehr schwierig, etwas Besseres aufzubauen", stellt sie fest.

Interessant zu erfahren wäre es, ob diese chilenische Botschaft irgendwann auch im spanischen Staat ankommt. Bisher jedenfalls nicht. Hier wird Erinnerung meist systematisch verhindert. Das Gesetz der Demokratischen Erinnerung (der aktuellen sozialliberalen Regierung) ist ein zaghafter Versuch, die franquistische Kontinuität im Staat anzukratzen. Ein möglicher Regierungswechsel würde die Prioritäten des “Regimes von 1978“ vollständig wiederherstellen. Bevor die Franquisten 1979 die von ihnen selbst konditionierte "demokratische Verfassung" akzeptierten, beschlossen sie eine Amnestie für ihre eigenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein klarer Verstoß gegen die Menschenrechts-Erklärung, die vom spanischen Staat ratifiziert wurde. 

NACHBEMERKUNG

(2022-09-13) Beim Referendum über eine neue Verfassung, die die „Pinochet-Verfassung“ ablösen soll, fand der Alternativ-Vorschlag keine Mehrheit. Für viele in der Bevölkerung war eine Serie von Formulierungen zu radikal, mehr als 60% lehnten ab. Für den erst kürzlich gewählten neuen Präsidenten Gabriel Boric bedeutete dieser Wahlausgang eine Niederlage, auf die er mit einer Umbildung seines Kabinetts reagierte. Von eher linksorientiert Richtung moderat. Am 13. September trafen sich Regierung und Opposition zu einer Besprechung über ein zweites Referendum. "Wir wollen den demokratischen und partizipatorischen Ursprung des Vorschlags beibehalten, aber die Fehler des gescheiterten Prozesses korrigieren", betonte ein Sprecher und plädierte für die Einsetzung einer Expertengruppe, die die verfassungsgebende Versammlung beraten soll.

ANMERKUNGEN:

(1) “Chile introduce un vanguardista ‘derecho a la memoria‘ en su nueva Constitución“ (Chile führt in seiner neuen Verfassung ein bahnbrechendes ‘Recht auf Erinnerung‘ ein), Tageszeitung Gara, 2022-08-17 (LINK)

(2) “Venda Sexy: Memorias no oficiales de un centro de detención” (Venda Sexy: Inoffizielle Erinnerung an ein Verhaftungs-Zentrum) (LINK)

ABBILDUNGEN:

(1) Chile Erinnerung

(2) Chile Polizei (naiz)

(3) Präsident Boric (publico)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-08-21)

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