chabola1Vom Elend des Kapitalismus

Jenseits der offiziellen Geschichtsschreibung zeigt Iñigo López Simón in seinem Buch “Este barrio de barro“ (Dieses Viertel aus Schlamm) anhand von Zeugenaussagen das Leben jener Menschen auf, die Mitte des 20. Jahrhunderts ihre Dörfer Richtung Bilbao verließen, um in der boomenden Industrie zu arbeiten und in Baracken-Siedlungen leben mussten. "Die offizielle Geschichte romantisiert das Phänomen der Baracken-Siedlungen in Bilbao stark, die Wohnbedürfnisse der Arbeiterklasse wurden immer ignoriert.

In den 1950er Jahren sorgte der Franquismus für einen Wirtschaftsschub in Bizkaia. Tausende kamen, sie hatten Arbeit aber keine Wohnungen, sondern lebten in Hütten. Iñigo López Simón, Autor des Buches “Eine Geschichte der Barackensiedlungen in Bilbao".

Mitte des 20. Jahrhunderts – 15 bis 20 Jahre nach dem Spanienkrieg und der Machtergreifung der Franquisten – erlebte Bilbao einen beeindruckenden demografischen und wirtschaftlichen Aufschwung, als Tausende von Menschen gezwungen waren, die ländlichen Gebiete des spanischen Staates zu verlassen und in die wenigen Industriestädte zu ziehen.

In seinem Buch "Dieses Viertel aus Schlamm. Geschichte der Baracken-Siedlungen in Bilbao“ (Este barrio de barro. Una historia de chabolismo en Bilbao) lässt der Historiker Iñigo López Simón einige dieser Menschen zu Wort kommen, die bei ihrer Ankunft in der Hauptstadt Bizkaias feststellen mussten, dass sie zwar als Arbeiterinnen und Arbeiter willkommen waren, dass für sie jedoch keine Wohnungen vorgesehen waren. Angesichts der für die Migrant*innen exorbitanten Preise und des Mangels an Wohnraum waren sie gezwungen, an den Hängen der Stadt ihre eigenen Hütten zu bauen, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Ein Interview mit dem Autoren Iñigo López Simón in der Tageszeitung Gara. (1)

Gara: Wer sind die Protagonisten in diesem Buch? Sie bezeichnen sie als "die großen Abwesenden der offiziellen Geschichtsschreibung"?

Iñigo López Simón: Es sind die Menschen, die in den Baracken-Siedlungen lebten, die Bilbao von der Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre bevölkerten. Menschen, die von weit her kamen, aus den armen ländlichen Gebieten der iberischen Halbinsel, gerufen von der baskischen Industrie und gedrängt von der Wirtschaftspolitik der franquistischen Diktatur, das sie dazu veranlasste, ihre Regionen zu verlassen und in die Industriestädte auszuwandern.

chabola2Wenn die Geschichte Bilbaos erzählt wird, werden diese Menschen erwähnt, aber es wird eine sehr romantische Vorstellung von diesem Migrations-Prozess vermittelt. Er wird dargestellt als eine Geschichte der persönlichen Überwindung und als treibende Kraft für den Aufschwung der Stadt. Die Realität sieht jedoch ganz anders aus: Diese Menschen wurden praktisch aus ihrer Heimat vertrieben und hatten es schwer, in Euskadi aufgenommen zu werden. Sie haben ihr Leben in den Fabriken oder in den Minen gelassen, die Frauen arbeiteten meist in ihren eigenen Unterkünften. Im Zuge der Deindustrialisierung (in den 1980er Jahren) wurden sie nicht mehr gebraucht und hinausgeworfen. Ohne diese Menschen wäre der Aufschwung der Stadt nicht denkbar gewesen. Aber vor allem wäre es nicht möglich gewesen, dass einige wenige Leute so viel Geld verdienten. In der offiziellen Darstellung wird dieser zweite Punkt völlig übergangen.

1950 lebten etwas mehr als 200.000 Menschen in Bilbo, 1970 waren es bereits 400.000. Wie sahen die Lebensbedingungen dieser Menschen aus? Warum zogen viele von ihnen es vor, in einer Hütte zu wohnen, anstatt in einer gemeinschaftlich geteilten Wohnung?

Diese Menschen kamen mit dem Versprechen von Arbeit, aber ohne Wohnung nach Bilbao. Sie sahen sich mit einer alarmierenden Wohnungsnot konfrontiert und mussten sich daher für den Selbstbau entscheiden und viele Jahre lang unter äußerst harten Bedingungen an den Berghängen in selbst gezimmerten Häusern leben. Häuser aus Holz, mit Blech- und Asphaltdächern. Die Häuser und Wege waren schlammig und kalt und wiesen große bauliche und hygienische Mängel auf.

Die Alternative war eine Wohnung, die sie mit der Familie des Vermieters und manchmal mit anderen Migranten-Familien teilen mussten. Diese Option bot zwar mehr Schutz bei schlechtem Wetter, aber keinerlei Privatsphäre. Obwohl es sich bei den Hütten um prekäre Konstruktionen handelte, konnten sich die Menschen in ihrem Raum frei bewegen und fühlten sich wohler. In den Zeugenaussagen, die ich gesammelt habe, sind die Erfahrungen von den Hausgemeinschaften nie gut in Erinnerung geblieben.

Die meisten Barackensiedlungen befanden sich in den Außenbezirken der Stadt, wo die Behörden nicht hinschauten, das ging so weit, dass diese Gebiete als "Elendsgürtel" bezeichnet wurden. Sie erwähnen auch andere Zonen im Stadtzentrum, in denen es ebenfalls Baracken-Siedlungen gab. Diesen Aspekt nahmen die Behörden etwas ernster, nicht wahr?

Richtig. Das ist bezeichnend. Das franquistische Wirtschaftssystem brauchte die Arbeit dieser Menschen, dann wurden sie an den Rand der Stadt gedrängt. Schließlich war der Zustrom von Arbeits-Migranten nicht mehr einzudämmen, alle diese Menschen mussten irgendwo leben. Deshalb drückten die Verwaltungen beide Augen zu, als an den Hügeln die Baracken-Siedlungen entstanden. Aber als sie im Stadtzentrum gebaut wurden, trübte dies das idyllische und als modern geltende Bilbao, das sie projizieren wollten, und der Stadtrat ließ sie abreißen (zum Beispiel auf der ehemaligen Euskalduna-Werft, auf dem “Campa de los ingleses“ genannten Gelände, wo heute das Guggenheim-Museum steht).

Zudem gab es Leute, die mit dem Baracken-Phänomen ein gutes Geschäft machten. So zum Beispiel die Mehrfach-Besitzer, die Häuser an verschiedene Familien vermieteten. Oder die Grundstücke verpachteten, auf denen die Baracken-Siedlungen errichtet wurden. In diesem Sinne hat sich wenig geändert. Auch heute gibt es noch Leute, die mit Grundbedürfnissen wie Wohnraum Geschäfte machen. Leute, die Wohnungen an viele Migrant*innen gleichzeitig vermieten, oder die sich an unverschämten Mietpreis-Steigerungen bereichern.

Gleich zu Beginn des Buches stellen Sie fest, dass die armen Bevölkerungs-Schichten historisch gesehen bei der Stadtplanung nie berücksichtigt wurden. Was bedeutet das?

Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Ungleichheiten, der Klassen und Kasten, in dieser Hinsicht sind die Städte ziemlich bedeutsam für die soziale Ungleichheit. Wenn wir an einem beliebigen Zeitpunkt in der Geschichte Bilbaos reisen, werden wir eine Differenzierung des Raums auf der Grundlage der sozialen Klasse feststellen. Dies ist seit dem Mittelalter der Fall, als Bilbao über die “Sieben Straßen“ (volkstümlicher Name der Altstadt) hinaus erweitert wurde und Bidebarrieta oder Correo als neue Straßen entstanden (nach 1483). Man muss heute nur durch diese Straßen gehen, um zu sehen, wie viel breiter sie sind als die ersten sieben und wie viele große Häuser mit Wappen dort stehen. Einige Straßen wurden von der Arbeiterklasse bewohnt, andere von der Bourgeoisie und den lokalen Machthabern.

Als Jahrhunderte später die Stadterweiterung von Abando (2) geplant wurde, geschah dies ebenfalls mit Blick auf die wohlhabenden Klassen, die Arbeiterklasse waren immer noch die dunklen Straßen vorbehalten, am Stadtrand oder in der Nähe von Fabriken. Im sauberen, geplanten und urbanisierten Gebiet gibt es keinen Platz für Arbeiter.

chabola3Neben den Zahlen werden in dem Buch auch die Vor- und Nachnamen der Protagonisten genannt, wie z. B. "Eloy aus Santander", der erste Barackenbewohner im Arbeiterviertel Uretamendi.

Ich bin Historiker, und obwohl man sich auf Beweise und Daten stützen muss, gebe ich den Dingen gerne eine Seele. In diesem Buch wollte ich dies durch die Aussagen der Menschen tun. Das scheint mir der einfachste, direkteste und fairste Weg zu sein. Das Phänomen Baracken hat sich in den 50er und 60er Jahren ereignet, so dass die Menschen, die es miterlebt haben, jetzt an ihr Lebensende kommen und ihre Erinnerungen verloren gehen. Mit diesem Buch wollte ich aus erster Hand berichten, wie es war, was diese Menschen erlebt haben, sollte irgendwo aufgeschrieben werden.

Hinter der Tragik des Lebens in den Baracken und trotz der Haltung der Stadtverwaltung und der Wirtschafts-Aristokratie von Bilbao gibt es auch eine schöne Geschichte der Solidarität.

Es gab Menschen, die nicht darüber sprechen wollten, weil sie sich schämten und die Vergangenheit nicht aufrühren wollten, ich denke, das ist verständlich. Aber es gibt auch Leute, die sich mit großem Stolz daran erinnern, und was am meisten hervorsticht, ist der Zusammenhalt zwischen den Nachbarn: wie sie sich trotz ihrer Probleme halfen und wie es angesichts der Widrigkeiten eine Gemeinschaft gab, die sich gegenseitig unterstützte und sich den Widrigkeiten entgegenstellte.

Das ist die wichtigste Lehre, die ich daraus ziehe. Auch heute ist Bilbao für die Menschen und ihren Alltag eine feindliche Stadt. Angesichts der individualistischen und konsumorientierten Gesellschaft, der wir unterworfen werden sollen, ist es die Gemeinschaft, die uns aus dieser Situation herausführen und Bilbao zu einer Stadt machen kann, die uns gehört und in der wir leben können. Es ist nicht einfach, weil wir immer mehr in unseren kleinen Welten verstrickt sind, aber der Schlüssel liegt in der Gemeinschaft. (1)

Nachbemerkung

Am selben Tag, an dem bei Gara der dokumentierte Artikel erschien, wurde in der meistgelesenen Tageszeitung des Baskenlandes (mit rechter Tendenz) ein Bericht publiziert, der deutlich macht, dass das Phänomen des Chabolismo – das Leben in Baracken – noch lange nicht zu Ende ist. Mit dem Unterschied, dass es sich nun nicht mehr um Migrant*innen aus spanischen Regionen handelt, sondern um solche aus anderen Ländern. Geschildert wird der Fall außerhalb eines kleinen Dorfes in Araba, wo Migrantinnen auf einem Privatgrundstück in illegal gebauten Holzhütten leben.

Wer eine Miete zahlt, kann mit einer Einschreibung bei der Meldebehörde rechnen, was wiederum die Basis darstellt, nach einer gewissen Zeit Sozialhilfe zu beantragen. Damit wäre der erste polemische Punkt erreicht: das Vorurteil, dass Migrant*innen sich Sozialleistungen erschleichen, wird von rechten Parteien und Medien seit Langem propagiert. Zwar wird im Artikel darauf hingewiesen, dass es sich bei den dort lebenden Personen um sozial benachteiligte Menschen in kritischer Situation handelt, im selben Atemzug wird jedoch von Prostitution gesprochen, von Schlägereinen, die die Polizei auf den Plan rief und von der Wahrscheinlichkeit, dass dort schulpflichtige Kinder leben, die nicht zur Schule gehen.

Weitere Details erübrigen sich angesichts der tendenziösen Berichterstattung, der Vermutungen und Zuschreibungen. Tatsache ist, dass es weiße Personen sind, die von dieser Vermietung profitieren und dass es Migrant*innen sind, die für minimale und eigentlich selbstverständliche humanitäre Leistungen (Wohnung, Anmeldung) viel Geld bezahlen müssen.

ANMERKUNGEN:

(1) “El relato oficial romantiza demasiado el fenómeno del chabolismo en Bilbao” (Die offizielle Darstellung romantisiert das Phänomen der Baracken-Siedlungen in Bilbao zu sehr), Tageszeitung Gara, 2023-03-19 (LINK)

(2) Seit seiner formalen Gründung im Jahr 1300 existierte Bilbao nur auf dem rechten Ufer des Nervion-Flusses. Links lag Anteiglesia de Abando, ein selbstständiger Ort ohne Stadtrecht. Die Industrialisierung, der Bergbau und die Tendenz zu Machtkonzentration führten 1890 zur Annexion von Abando durch Bilbao.

ABBILDUNGEN:

(*) Baracken Bilbao (naiz)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2023-03-20)

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