Schnecken, zwischen Tradition und Avantgarde
Als Allesfresser hat sich die Menschheit daran gewöhnt, alles zu verwerten, was die Umgebung bietet. Schon lange dienten Schnecken als Lebensmittel, davon zeugen die Gehäuse, die an Ausgrabungsstätten gefunden wurden. Diese Weichtiere waren immer Teil der menschlichen Ernährung, ob sie nun vom Land oder aus dem Wasser stammten, ob aus der Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme oder aus purer Lust. Hier soll es um die gastronomische Nutzung der Weinbergschnecke im Baskenland gehen.
Die Weinbergschnecke, Helix Pomatia, gehört wie die Venusmuschel, die Miesmuschel, die Auster oder der kleine Tintenfisch zur Familie der Weichtiere und ist trotz ihrer einfachen Eiweißverbindung ins Blickfeld der gastronomischen Avantgarde gelangt (1). Erste dokumentarische Hinweise auf die kulinarische Zubereitung von Schnecken stammen aus der Zeit der Römer. Offensichtlich verfügten sie bereits über Schnecken-Zuchtfarmen und Apicius beschreibt in seinem "De re coquinaria" (2) einige Rezepte. In der Renaissance war es Leonardo Da Vinci, der in seinen kulinarischen Abhandlungen auch auf die Zubereitung von Weinbergschnecken einging.
Schneckengenuss im Baskenland
Im Baskenland sind einige traditionelle Rezepte bekannt, deren Hauptzutat Weinbergschnecken waren. Die große kulinarische Revolution kam jedoch mit der Einführung und Verbreitung von Lebensmitteln, die nach der Eroberung und Plünderung Lateinamerikas eingeführt wurden. Tomaten, Paprika, Kartoffeln, Bohnen, Mais, Pute, Schokolade und andere Produkte erweiterten Spektrum und Vielfalt der Zubereitungen in der baskischen Küche, insbesondere von Gerichten mit Weinbergschnecken.
Die werden in den baskischen Regionen aus verschiedenen Anlässen und zu unterschiedlichen Jahreszeiten konsumiert. In Araba (span: Álava) werden sie im Frühling gereicht, speziell am Feiertag des heiligen Prudencio, zusammen mit Pilzen und Lammfleisch. In der Rioja wird der nächtliche Sommertau genutzt, um die Schnecken in den Weinbergen zu sammeln, in Navarra werden mit Schnecken viele Gerichte ergänzt, die aus regional angebautem Gemüse zubereitet werden. In Bizkaia findet das Sammeln in der Regel im Herbst statt. In Schachteln oder engmaschigen Netzen, mit Kleie und Lorbeerzweigen versehen, werden die Tiere konserviert, damit sie an Weihnachten oder Neujahr als Festmahl aufgetischt werden können. Abseits von diesem gastronomischen Kalender werden sie in Frankreich das ganze Jahr über verzehrt. Eine Unzahl an Schnecken-Zuchtfarmen sorgt dafür, dass der Nachschub gewährleistet ist.
Finessen der Zubereitung
Die Zubereitung der Schnecken bedarf bestimmter Techniken und ist nicht frei von Besonderheiten und Kontroversen seitens der Sachverständigen. Das Einsammeln, die Reinigung und spätere Zubereitung des tierischen Lebensmittels erfordert die Einhaltung bestimmter Schritte, damit das Endergebnis zurGaumenfreude der anspruchsvollsten Genießerinnen werden kann.
Schnecken gehören zu den wenigen Nahrungsmitteln, für deren Besorgung es nicht immer und unbedingt nötig ist, einen Laden oder Markt aufzusuchen. In Bizkaia ist es von September bis Oktober bei frühmorgendlichem Tau und dem gewöhnlichen Sirimiri (Nieselregen) nicht besonders schwierig, größere Menge Schnecken zu sammeln. Routinierte Sammler sagen, die besten Schnecken kämen aus den steinigen Hängen, weil sie wenig Moos fressen und eine harte Schale haben. Wer keinen Zugang zu solchen Gegenden hat, sollte darauf achten, dass die am Wegrand und auf Wiesen gesammelten Schnecken eine gute Größe und eine harte Schale haben. Andere meinen, dass die besten Schnecken, sprich die größten, auf Grabsteinen zu finden sind, vermutlich weil Friedhöfe von den meisten Sammlerinnen aus Respekt gemieden werden. Wie dem auch sei, wer die Arbeit des Auflesens und die Gefahr einer Erkältung umgehen will, kann sich seine Schnecken auch auf dem Markt besorgen und zwar zu einem Preis, der im Verhältnis zu anderen Weichtieren relativ günstig ausfällt. Beim traditionellen Montagsmarkt in Gernika im Oktober 2014 betrug der Preis pro Kilo zwischen 10 und 12 Euro.
Methoden der Reinigung
Eine Kontroverse ergibt sich beim Reinigungsvorgang. Einige halten es für falsch, die Schnecken mit Salz und Essig zu spülen, weil sie dadurch nur noch mehr Schleim absondern, was wiederum die Fleischqualität negativ beeinflusst. Die Puristen empfehlen, sie schlicht mit reichlich Wasser auszuwaschen, ohne Salz. Besonders wichtig sei es, die Tiere vor dem Kochen mindestens 15 Tage lang ohne Nahrungsaufnahme zu halten. In diesem Zeitraum tritt die Schnecke, nachdem sie eine isolierende Außenhaut aufgebaut hat, in eine Art Winterschlaf und konsumiert die Nahrungsreste, die ihr in den Därmen verbleiben. Einer Volksweisheit zufolge ist es in dieser Zeit empfehlenswert, in die zur Aufbewahrung vorgesehenen Schachteln oder Netze einige Lorbeerblätter zu legen. Einerseits geben diese dem Fleisch einen besonderen Geschmack, andererseits leisten die antiseptischen Eigenschaften von Lorbeer einen positiven Beitrag zur Gesundheit beim späteren Verzehr.
An dieser Stelle soll eine Nachricht erwähnt werden, die "El Noticiero Bilbaino" im Jahr 1882 bezüglich des Verzehrs von Schnecken publizierte. Unter dem Motto "Cuidado con los caracoles" (Vorsicht mit den Schnecken), wurde ein besonderer Aufruf an die Liebhaber dieser Speise gerichtet. Darin hieß es, dass Schnecken sich in bestimmten Fällen in Gift für den Menschen verwandeln können, da sie sich vorwiegend von Pflanzen ernährten, die für Menschen schädlich seien. Deshalb wurde empfohlen, sie in keinem Fall zuzubereiten, ohne sie einem vorhergehenden 15tägigen "Fasten" unterzogen zu haben. Es bestünde die Gefahr, sich durch den Saft der schädlichen Pflanzen zu vergiften, die den Schnecken als Nahrung dienten, zum Beispiel Lorbeer, Rose, Fingerhut.
Die klassische Methode zur Reinigung von Schnecken wird im Leitfaden der "Academia de cocina y repostería clásica y moderna CASI" (Akademie für klassische und moderne Kochkunst und Konditorei) wiedergegeben. Diese Akademie mit Sitz in der Elcano Straße im Zentrum Bilbaos erfasst in ihrem Leitfaden das Beste der kulinarischen Tradition Bilbaos. Die von ihr empfohlene Vorgehensweise zur Säuberung der Schnecken ist folgende: die Tiere in einen großen Topf geben, mit Salz bedecken, sie mit den Händen bewegen um die Schleimabgabe zu fördern, danach mit klarem Wasser abspülen. Das Ganze zwei Mal wiederholen und unter fließendem Wasser solange spülen bis das Gehäuse spröde wird. Erst danach seien sie wirklich sauber.
Ursprünglich wurden Schnecken jedoch nach einer Methode gereinigt, die im baskischen Küstenort Plentzia nach wie vor gepflegt wird: Nach den besagten "Fastentagen" wird ihnen einzeln das dünne Häutchen entfernt, das sie zur eigenen Abschottung entwickelt haben. Jedes Tier wird mit grobem Salz bestreut, alle zusammen über Nacht in einen Topf gegeben. Sie müssen 24 Stunden eingesalzen bleiben, um weiteren Schleim abzugeben. Nach Ablauf dieser Zeit werden die Schnecken in kleinen Mengen in feinmaschige Netze gepackt und zur Flussmündung gebracht, wo sich durch die Gezeiten Salz- und Süßwasser mischen. Nun werden die Netze im Meerwasser geschwenkt. Dafür wird Flut empfohlen, oder noch besser auflaufende Flut. Das salzhaltige Wasser führt dazu, dass die Schnecken mehr Schleim abgeben als in Süßwasser. In der Küche werden die Schnecken dann noch einmal einzeln unter fließendes Wasser gehalten und können gekocht werden. Eine Anekdote erzählt, dass Victoriano Bilbao, Kapitän einer Handelsflotte behauptete, bei der Entfernung von Häutchen und Schleim, den die Schnecken absondern, nachdem sie mit Salz bestreut wurden, sollte ein kleiner Zweig eines Orangenbaums vorsichtig über die Gehäuseöffnung gestreift werden.
Formen der Zubereitung
Nach der sorgfältigen Reinigung geht es nun an die Zubereitung. Der erste Schritt ist das Kochen, die gewünschte Soße wird später hinzugefügt. Der Plentzia-Methode folgend werden die Schnecken zunächst 20 Minuten lang in ungesalzenem heißen Wasser gekocht. Dieses Wasser wird entsorgt und durch frisches ersetzt, beigefügt werden Salz, Lauch, Mohrrüben und Petersilie. Die Schnecken werden gekostet, wenn sie zart sind, ist das Gericht fertig. Um zu verhindern, dass die Schnecken sich zu weit in ihr Haus zurückziehen, wenn sie in kaltes Wasser geworfen werden, empfehlen einige Spezialisten, sei es besser, sie in lauwarmes Wasser zu geben, damit sie beim ersten Kochen herauskommen und dadurch zarter werden.
Ein weiterer wesentlicher Faktor ist die Zubereitung der Soße. Dabei gibt es viele Varianten, die beliebteste ist die sogenannte bizkainische Soße. Dafür greifen wir erneut auf unsere Quelle aus Plentzia zurück, die besagt, diese Soße werde allein aus Pimiento Choricero (3) gemacht, ohne Zugabe von Tomaten. Sollte die Soße jedoch geschmacklich zu intensiv sein, kann ein wenig Tomate beigefügt werden, um sie zu mildern. Wie gesagt, der Ausgangspunkt für diese Soße ist die auf spezielle Art getrocknete Paprika, die zuvor in lauwarmem Wasser eingeweicht wird, um das Fruchtfleisch von der Haut zu lösen. Parellel werden rote Zwiebeln angebraten, denen Paprika und bei Bedarf auch kleingeschnittene Tomaten zugefügt werden. Sobald das Gemisch gar ist, wird es püriert. In einer separaten Pfanne werden Schinken, Lende und Speck angebraten. Erst werden die Schnecken dazugegeben, dann die Soße. Zur Verdünnung der Soße kann je nach Bedarf Wasser ergänzt werden.
Darüberhinaus gibt es mehrere Variationen der bizkainischen Soße. Die Zubereitung des Gewinnergerichts 2004 beim jährlichen Koch-Wettbewerb in Gernika beispielsweise war der hier beschriebenen Variante sehr ähnlich. Den beiden Köchen zufolge werden zuerst Zwiebeln angedünstet – es kann ein bisschen Brot dazugegeben werden – und mit frischgewonnenem Paprikamark verrührt. Die Masse sollte ein wenig ruhen und danach püriert werden. Die Schnecken säubern und kochen, Räucherspeck und Chorizo-Scheiben anbraten und alles mischen. Dieser gastronomische Wettbewerb, der seit 1982 regelmäßig stattfindet und ungefähr 50 Teilnehmende vorwiegend aus Bizkaia umfasst, beeindruckt durch hohes gastronomisches Niveau, obwohl es gelegentlich auch zu kleineren Ausfällen kommt, wenn zu viel Gewürz zugegeben wird oder die Schnecken zu kurz gekocht werden.
Volksküche – Autorenküche
Dieses populäre Schnecken-Gericht hielt vor einigen Jahren auch Einzug in die Spitzengastronomie, die heutzutage auch Autorenküche genannt wird. Am 26.September 2004 organisierte das Restaurant Pablo Urzay in Las Arenas (Getxo/Bizkaia, an der Flussmündung des Nervion gelegen) einen Weinbergschnecken-Kochwettbewerb, bei dem sowohl traditionelle Rezepte als auch bahnbrechende Neukreationen namhafter baskischer Restaurants aufgetischt wurden. Die Rede war von der vielversprechenden Zukunft kulinarischer Innovation gegenüber traditioneller Zubereitung, da die Menschen immer mehr bereit sind, neue Variationen zu kosten und auszuprobieren. Seitdem gibt es neben den traditionellen Rezepten "a la Vizcaina" und "a la Riojana" unzählige neue Kreationen: geräucherte Schnecken, mit Kräutern, Pilzen oder in Tintenfischsoße, um nur einige zu nennen.
Tatsache ist, dass jährlich ca. 4.000 Tonnen Weinbergschnecken aus Frankreich eingeführt werden. Vor diesem Hintergrund entstanden in Bizkaia in den letzten Jahren vier Schnecken-Zuchtfarmen, eine trägt das Ökolabel der baskischen Regierung. Sie befindet sich in Urduña (spn: Orduña, Grenzort zwischen Bizkaia und Burgos) und ist seit 2007 in Betrieb. "Der Unterschied liegt in der Qualität. Bei Schnecken aus ökologischer Zucht ist garantiert, dass sie gesund sind. Sie werden mit natürlichen Methoden aufgezogen und haben 35% mehr Fleischgehalt. Außerdem wachsen sie schneller als Tiere in freier Natur, die ca. 2 Jahre brauchen. Die Sterberate der ökologischen Zucht liegt bei 10%, in herkömmlichen Zuchtfarmen steigt diese Rate bis zur Hälfte der Produktion", so ist auf der Homepage des Unternehmens Barraskibide zu lesen. (4)
In Anbetracht der Tendenz zur Massenproduktion – und sei sie ökologisch – stellt sich allerdings die Frage, ob industrielle Kultivierung im großen Stil nicht dazu führt, dass die althergebrachten Techniken und Rezepte zum Sammeln, Reinigen und Zubereiten der Weinbergschnecken in Vergessenheit geraten.
ANMERKUNGEN:
(1) Die Information des Artikel stammt in wesentlichen Teilen aus dem folgend genannten Artikel, stellt jedoch keine Übersetzung dar: "Los caracoles, entre lo tradicional y la vanguardia gastronómica" von Olga Macias (Schnecken, zwischen Tradition und gastronomischer Avantgarde), aus der Zeitschrift AUNIA Nr.5, Frühling 2005, www.aunia.org
(2) Marcus Gavius Apicius (* um 25 v. Chr) war ein römischer Feinschmecker der Antike. Sein Name ist als einer der Autoren des ältesten erhaltenen römischen Kochbuchs überliefert, des "De re coquinaria" (Über die Kochkunst).
(3) Pimiento Choricero (Wurst-Paprika): Diese Paprika ist eine Variation der roten Paprika, die zopfähnlich aneinandergeknüpft an der Luft getrocknet wird. Zum Kochen wird nur das Mark verwendet, das durch Einweichen der trockenen Paprika gewonnen wird. Dieses Mark wird für die Herstellung der traditionellen Chorizo (Paprikawurst) verwendet.
(4) Helicicultura ecológica, Julen Rekondo (Ökologische Schneckenzucht). (Link)
WEITERE INFORMATION:
* Barraskibide diversifica su producción en Vizcaya, 13/02/2012 (Die Barraskibide-Farm erweitert ihre Produktion in Bizkaia). ( Link)
* Los caracoles ecológicos de la granja Barraskibide salen del País Vasco (Ökologische Schnecken aus der Barraskibide-Farm verlassen das Baskenland) (Link)
* Jóvenes criadores de caracol animan a formas vida alternativas y sostenibles (Junge Schneckenzüchter animieren zu alternativen und nachhaltigen Lebensformen) (Link)
ABBILDUNGEN:
* Aus dem Artikel Helicicultura ecológica, von Julen Rekondo, Fotos: Barraskibide-Schneckenfarm
* Zeitschrift AUNIA Nr.5, Frühling 2005, www.aunia.org
* Plentzia Flussmündung (Foto Archiv Txeng)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 30.10.2014)