Eine unvollständige Analyse
Das fragte sich am Tag der Parlamentswahlen im spanischen Staat das deutsche Handelsblatt, mit dem Untertitel “Spanien vor dem Rechtsruck“. Weiter: “Mit Vox könnte das erste Mal seit der Franco-Diktatur eine Partei von Rechtsaußen Teil der Regierung werden. Das könnte weniger Autonomie für Spaniens Regionen bedeuten – und weniger Einfluss der EU“. Dazu kam es aber nicht. Zwar gewann die postfranquistische Partido Popular, doch die Faschisten versagten und die ultrarechte Mehrheit kam nicht zustande.
Wochenlang hatten Umfragen eine Regierungsbeteiligung der neo-franquistischen Vox-Partei vorausgesagt. “Der Vox-Parteichef könnte entscheidend für eine künftige spanische Regierungskoalition werden.“ Im Handelsblatt folgt der Versuch einer Analyse der Ultra-Partei.
“Glaubt man den Umfragen, dann steht Spanien kurz vor einem Rechtsruck. Bei der Wahl am Sonntag dürfte die konservative Partido Popular (PP) die meisten Stimmen erhalten und die Rechtsaußen-Partei Vox für eine Koalition benötigen. Sie ist seit 2019 im Parlament und kommt in Umfragen auf etwa 13 Prozent“, mutmaßte das Handelsblatt am Wahltag (1). Nicht alle Umfragen bewegten sich auf dieser Ebene, einer zufolge sollte der bisher bestehende Block aus Regierung und Unterstützer-Parteien die Mehrheit behalten. Weil die Umfrage aus dem sozialdemokratischen Umfeld kam, wurde darüber gelacht. Doch gerade sie kam dem realen “Ergebnis“ am nächsten.
“Die regierenden Sozialisten (PSOE) von Ministerpräsident Pedro Sánchez und das linke Sammelbündnis Sumar kommen laut den Prognosen zusammen nicht in die Nähe einer Mehrheit“, tönte die rechte Presse seit den Kommunalwahlen im Mai, bei denen Sumar-Podemos und die Sozialdemokraten der PSOE tatsächlich eine deftige Niederlage hatten einstecken müssen.
“Mit Vox wäre in Spanien zum ersten Mal seit dem Ende der Franco-Diktatur 1975 eine rechtsextreme Partei an der Macht. Spaniens Rechtsruck käme damit später als in vielen anderen Ländern Europas.“ Selbst diese Hypothese ist mit Vorsicht zu genießen. Denn mehr als ein Mal hatte die postfranquistische PP die Regierung gestellt. Erst mit dem Falangisten Suarez, dann mit dem Falangisten Aznar und zuletzt mit Rajoy, der erste PP-Führer, der keine direkte Geschichte im Franquismus anhängig hatte. Nicht zufällig wird die PP “postfranquistisch“ genannt, denn gegründet wurde sie von alten Franquisten, die ihre diktatoriale Macht im ungeliebten demokratischen Ambiente fortführen wollten. Dass Franco nicht zum Ehrenvorsitzenden bestimmt wurde, war alles. In der Justiz, der Polizei und beim Militär blieb ansonsten alles beim Alten. “Zum ersten Mal“ ist somit stark untertrieben.
“Das erklärt sich mit den Wurzeln der Vox-Partei: Sie verdankt ihren Aufstieg dem illegalen Unabhängigkeits-Referendum in Katalonien“, das Spanien 2017 in eine ernste konstitutionelle Krise gestürzt hatte. “Ohne Katalonien hätte Vox nicht einen solchen Rückenwind erhalten“, ist sich der Politikwissenschaftler Jorge del Palacio Martín von der Madrider Universität Rey Juan Carlos sicher. “Inzwischen hat sich die Lage in Katalonien beruhigt. Parteichef Santiago Abascal macht den Kampf gegen jede Autonomiebestrebung dennoch zum Kern seines Programms.“ - “Die Zukunft gehört uns, den Patrioten“, ruft er in seinem Wahlkampfspot und: “Viva España!“
Vox will Parteien verbieten, die die Einheit Spaniens gefährden
Die Partei fordert einen “administrativ dezentralisierten Einheitsstaat“. – “Die 17 autonomen spanischen Regionen, die teilweise mehr Kompetenzen haben als deutsche Bundesländer, sollen ihre Hoheit über Themen wie Bildung, Gesundheit, Sicherheit und Justiz an die Zentralregierung in Madrid abgeben.“ Erster großer Interpretationsfehler im Handelsblatt.
Denn die regionalen Autonomie-Statute im spanischen Staat gehen keineswegs so weit wie in Deutschland. Zudem sind sie sehr unterschiedlich. Denn nur die Statute der historischen Regionen Galicien, Katalonien und Baskenland gehen dabei etwas weiter. Diese drei Regionen sind offiziell zweisprachig, Baskenland und Katalonien haben eine autonome Polizei (Ertzaintza, Mossos d‘Escuadra). Was nur die allerwenigsten wissen: der baskische Autonomie-Vertrag wurde – obwohl in der Verfassung festgeschrieben – nie ganz erfüllt.
Bis vor Kurzem blieben 33 darin festgelegte Kompetenzen nicht übertragen, weder von rechten noch von sozialdemokratischen Regierungen in Madrid. Ein seltsames Verständnis von Vertragstreue. Erst nach und nach holen sich baskische Parteien diese Rechte in den Norden, als Preis zur Zustimmung zum Staatshaushalt. Bestes Beispiel: die Gefängnis-Kompetenz, die im Herbst 2021 übertragen wurde. Und selbst dabei mischt sich Madrid über die politisierte Justiz ständig ein. Was die baskische Sprache Euskara anbelangt, könnte die Liste der Einmischungen und Gängelungen endlos fortgesetzt werden. So viel zu den Autonomien.
Zu der von Vox gewünschten Re-Zentralisierung “wäre zwar eine Verfassungsänderung nötig. Die allerdings ist seit der Unabhängigkeits-Krise in Katalonien auch für die etablierten Parteien kein Tabu mehr. Die Sozialisten (besser Sozialdemokraten) gehen dabei jedoch in eine ganz andere Richtung als Vox und würden die Regionen in ihrem Konzept des ‘plurinationalen Staates‘ stärken.“
“Vox will zudem Parteien, Verbände und Organisationen verbieten, die ihrer Meinung nach die territoriale Einheit gefährden. Dazu gehören vor allem die katalanischen Unabhängigkeits-Parteien und die baskische EH Bildu, die aus dem politischen Arm der inzwischen aufgelösten Terrororganisation ETA hervorgegangen ist.“ Auch diese Darstellung ist falsch. Euskal Herria Bildu ist eine Koalition aus vier Parteien: die sozialdemokratische EA, eine ehemalige Abspaltung von den baskischen Christdemokraten; die links-nationalistische Partei Aralar, und Alternatiba, ein Übrigbleibsel der Kommunistischen Partei. Nur das vierte Element, Sortu, hatte Verbindungen zu ETA.
“Premier Sánchez hat mit beiden (Gruppierungen) zahlreiche Abkommen geschlossen, um seiner Minderheits-Regierung deren Stimmen zu sichern. Vielen Spaniern ist das bitter aufgestoßen.“ Tatsache ist, dass ETA seit 2009 keine Aktionen mehr durchführte, 2011 einen definitiven Waffenstillstand erklärte, 2016 die Waffen abgab (ohne Zutun der spanischen Regierung) und 2018 ihre Auflösung erklärte. Die baskische Linke in Form von Sortu hat seither eine radikale politische Wende vollzogen. Somit könnte sich die Frage stellen, warum und wie lange EH Bildu mit ETA gleichgesetzt werden soll. Dies ist nämlich die ultrarechte Strategie. Von Vox werden die EHB-Politiker*innen regelmäßig als “ETA-Terroristen“ bezeichnet, das alte Feindbild wird kultiviert aus politischem Kalkül.
Vox will allerdings nicht nur die “ETA-nahen“ oder die Unabhängigkeit befürwortenden Parteien verbieten lassen. Sogar die christdemokratische Baskisch Nationalistische Partei PNV, die nicht auf einen eigenen Staat, sondern auf eine größtmögliche Autonomie im spanischen setzt, soll gleich mit verboten werden. Die alte faschistische Geschichte: wo Verbote erst einmal anfangen …
“Vox richtet sich auch gegen Kompetenzen der EU-Kommission. Die Partei will zwar nicht, dass Spanien aus der EU austritt – in der stark pro-europäischen spanischen Bevölkerung ließe sich damit auch nicht punkten. Aber das nationale Recht soll Vorrang vor europäischer Gesetzgebung haben, wenn es um das Gemeinwohl Spaniens oder das allgemeine Interesse des spanischen Staates geht – eine Forderung, die mit den EU-Statuten kaum zu vereinbaren wäre.“
Gefahr für die Demokratie?
“Viele Vox-Kandidaten waren ebenso wie Parteichef Abascal früher Mitglied der PP. Die hat jahrzehntelang in Spanien das gesamte (ultra)-rechte Spektrum abgedeckt, von der Mitte bis zum rechten Rand. Experten sind bei der Einordnung von Vox gespalten. Die einen sehen in der Partei eine Gefahr für die Demokratie, die anderen eine Reaktion auf die aktuelle Regierung“, so das Handelsblatt.
Zu Ersteren gehört Carolina Plaza Colodro, die an der Universität Salamanca zu populistischen und euro-skeptischen Parteien forscht. “Der Plan, Parteien zu verbieten, ist klar anti-demokratisch und ein Grund zur Sorge“, sagt sie. Lluis Orriols, Politologe an der Universität Carlos III in Madrid, hält indes dagegen, dass der Kampf gegen liberale Demokratien nicht im Zentrum der Partei stehe. Gleichwohl ist er überzeugt: “Vox bedeutet einen gefährlichen Bruch für das gesellschaftliche Miteinander. Die Partei ist ausländerfeindlich, antifeministisch und startet ohne Scham einen Kulturkampf.“
“In dem streng konservativ-katholischen Weltbild der Partei steht die traditionelle Familie im Zentrum, sexuelle Minderheiten haben da keinen Platz. Allerdings trifft Vox mit dem Fokus auf traditionellen Werten offenbar in Teilen der spanischen Bevölkerung einen Nerv.“ Nur nicht im Baskenland, in Navarra und in Katalonien, wo der National-Katholizismus, ideologisches Fundament der Franquisten, schon lange auf dem Rückzug ist.
“Die linke Regierung ist bei einigen Themen zu weit gegangen – Vox wendet sich gegen diese Exzesse“, sagt Andrés de Francisco, Philosoph an der Complutense-Universität in Madrid. Als Beispiel nennt er das neue Gesetz zu Trans-Menschen, das Vox wieder abschaffen will. “Es ist eines von zwei besonders umstrittenen Gesetzen der links-populistischen Gleichstellungs-Ministerin Irene Montero (Podemos) und erlaubt allen über 16 Jahren, frei über ihr Geschlecht zu entscheiden.“ Vielen Spaniern geht das angeblich zu weit. “Gerade Jugendliche suchen ihre Identität in der Pubertät noch – sie sollten nicht gleich ihr Geschlecht ändern können“, sagt etwa de Francisco.
Es ist kein Geheimnis, dass individuelle Freiheiten nicht zu den Stärken von autoritäts-fanatischen faschistischen Organisationen gehören. Auch ist seit der Verabschiedung dieses Gesetzes keine Millionenwelle von Jugendlichen angekommen mit dem Wunsch nach Geschlechtsänderung. Hintergrund dieses moralisch-religiösen Kreuzzugs sind Gruppen von Abtreibungsgegnern und die ultra-katholische “Prälatur vom Heiligen Kreuz und Opus Dei“ (2), die ebenfalls aus der faschistischen Tradition kommen und sogar dem aktuellen Papst Bauchschmerzen bereiten.
“Den radikalen Modernisierungs-Vorstößen der Linken könnte mit Vox ein ebenso kraftvoller Schwung in die Gegenrichtung folgen. In einigen von der Partei mitregierten Kommunen gab es bereits erste Kontroversen. So wurde in einer Stadt in Kantabrien der Disney-Film ‘Lightyear‘ aus dem Programm genommen, weil sich darin zwei Frauen küssen.“
Meloni unterstützt Vox im Wahlkampf
“In Italien, wo die postfaschistische Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni regiert, gibt es ähnliche Kulturkämpfe. Meloni hat einen guten Draht zu Abascal und hat sich für dessen Wahlkampf in Valencia live per Video zugeschaltet. Übereinstimmung der beiden gibt es auch beim Thema Migration. Vox will illegale Einwanderer sofort des Landes verweisen, öffentliche Hilfen für sie streichen und Migrantenschiffe auf hoher See abfangen – so wie Italien es in der Vergangenheit bereits praktiziert hat.“ Nicht nur zu Meloni, auch zu Le Pen in Frankreich und ultrarechten Trump-Kreisen in den USA pflegt Vox beste Beziehungen.
“Das Thema Wirtschaft spielt bei Vox dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Die Partei will die Einkommensteuer auf 15 und 25 Prozent festsetzen – letzterer Wert für Einkommen über 70.000 Euro. Für jedes Kind reduziert sich die Steuerlast um vier Prozentpunkte, sodass eine Familie mit vier Kindern gar keine Einkommensteuer zahlt, heißt es im Parteiprogramm.“
Eine Regierungsbeteiligung von Vox könnte auch Spaniens ambitionierte Politik gegen den Klimawandel bremsen. “Die Partei will aus dem Pariser Klima-Abkommen aussteigen und kritisiert verkehrsberuhigte Innenstädte, weil sie spanischen Familien die Freiheit zur Mobilität raubten. Das für Spanien wirtschaftlich wichtige Zukunftsthema grüner Wasserstoff – den das Land mit viel Sonne günstiger produzieren kann als andere und deshalb auch exportieren will – taucht in dem 178 Seiten starken Wahlprogramm von Vox kein einziges Mal auf.“ (1)
Aufarbeitung von Kriegsverbrechen
Vom Handelsblatt vergessen wird ein Thema, das sowohl politische Relevanz hat und deutlich macht, wessen Herren Diener die Verantwortlichen von Vox sind. Sie wollen – darin sind sie sich mit der postfranquistischen PP einig – das von der sozialliberalen Koalition verabschiedete “Gesetz der Demokratischen Erinnerung“ sofort wieder zurücknehmen. Dabei handelt es sich um den zweiten Versuch nach 2007, die Menschenrechts-Verbrechen während des Spanienkrieges und der franquistischen Diktatur aufzuarbeiten und deren Opfer anzuerkennen.
Mehrfach hat eine UNO-Kommission angemahnt, dass in der spanischen Erde nach wie vor mehr als 100.000 Leichen in Massengräbern liegen, die zum großen Teil willkürlich erschossen worden waren. An dieser Tatsache etwas zu ändern hat die PP nie auch nur einen Finger krumm gemacht. Im Gegenteil. Alle Versuche von anderen Seiten wurden boykottiert oder sabotiert. Warum? Es handelt sich schlicht um die Opfer ihrer politischen und familiären Vorfahren. Großvaters Verbrechen aufzuklären, daran hat die PP so wenig Interesse wie die Vox-Partei, die dieses Thema noch deutlich aggressiver angeht.
Kann sich jemand in mitteleuropäischen Breitengraden eine Hitler-Stiftung vorstellen, die jährlich mit Millionen aus der Staatskasse finanziert wird und die in ihrem Archiv staatliche Unterlagen aus der Zeit des Faschismus aufbewahrt, die niemandem zugänglich sind? All das trifft im iberischen Staat auf die “Fundación Nacional Francisco Franco“ zu. Es erfordert nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, wie diese faschistische Stiftung unter einer Vox-Regierung aufblühen würde.
ANMERKUNGEN:
(1) “Spanien vor dem Rechtsruck“, Handelsblatt, Sandra Louven, 23.07.2023 (LINK)
(2) Opus Dei, Wikipedia (LINK)
(3) Franco-Stiftung (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Vox, Abascal (handelsblatt)
(2) Vox, Abascal (handelsblatt)
(3) Meloni, Abascal (elperiodico)
(4) Vox, Abascal (handelsblatt)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2023-07-25)