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Notaufnahme in der Sowjetunion

Um baskische Kinder vor den anrückenden Faschisten in Sicherheit zu bringen, traf die baskische Regierung im Juni 1937 eine dramatische Entscheidung: Tausende von Kindern wurden mit Schiffen evakuiert, nach England, Belgien, Frankreich und in die Sowjetunion. Einige kamen Jahre später zurück, die letzten zwanzig Jahre danach, manche nie. Jon war eines dieser „Kriegskinder“, die häufig auch „Kinder von Gernika“ genannt wurden, nach dem weltbekannten Kriegsverbrechen der nazideutschen Legion Condor.

Kurz vor dem militärischen Fall von Bilbao und dem Ende des Krieges im Baskenland evakuierte die baskische Regierung – in einem für die Kriegs-Geschichte einmaligen Vorgang – Tausende von Kindern in aufnahmebereite Länder wie Frankreich, Belgien, England und die Sowjetunion.

Das erste Evakuierungs-Schiff Richtung Frankreich legte am 21. März im Hafen der baskischen Hafenstadt Santurtzi ab, mit 450 Kindern an Bord. Ende September 1937 sollten es bereits an die 20.000 Kinder sein, die auf diesem Weg nach Frankreich gebracht worden waren. Nicht nur aus dem Baskenland, auch aus Asturien, Kantabrien und Barcelona.

KK02Jon wurde 1930 in Bilbao geboren, war also gerade sechseinhalb Jahre alt, als er zu einem jener „Kriegskinder“ wurde. „Niños de la guerra“ wurden sie im Baskenland genannt, manchmal auch „Niños de Gernika“ (Kinder von Gernika), nach dem in der baskischen Stadt von den Nazis verübten Kriegsverbrechen (1). Nach der Entscheidung seiner Eltern wurde Jon in die Sowjetunion evakuiert. Tausende von Familien nahmen den Trennungsschmerz von ihren Kindern in Kauf und zogen es vor, ihren Nachwuchs vor den anrückenden Schlächter-Truppen der Franco-Putschisten und den willkürlichen Bombardierungen der nazideutschen Legion Condor in Sicherheit zu bringen. „Habana“ war der Name des Dampfers, mit dem Jon, zusammen mit seiner älteren Schwester, aus Santurtzi weggebracht wurde. Erst zehn Jahre später setzte er seine Füße wieder auf baskischen Boden. Im Baskultur-Interview erzählt Jon seine Erfahrungen.

BASKULTUR: Jon, du wurdest im Jahr 1930 in Bilbao geboren und warst eines der „Kriegskinder“, oder besser gesagt: eines der ersten Kinder, die während des Krieges zu ihrer Sicherheit in die Sowjetunion verschifft wurden. Mit sieben Jahren warst du an der Reihe.

JON: Mit sechs Jahren, zum siebten Geburtstag fehlte mir ein halbes Jahr.

BASKULTUR: Hast du eine Erinnerung an die Zeit vor deiner Abreise, an die Ereignisse in Bilbao?

JON: Ich erinnere mich, dass in unserem Stadtteil Bolueta manchmal Bomben herunterkamen. Wenn die Sirenen der Santa-Ana-Fabrik heulten, rannten wir in die Tunnel. Da wo heute die Metro Bilbao durchkommt, wo nun Hochhäuser gebaut werden, an jener Stelle war ein kleiner Fluss. Am 13. Juni 1937 haben sie uns zum Hafen nach Santurtzi gebracht, um Richtung Frankreich an Bord zu gehen. Dort wurden wir dann auf ein anderes Schiff verfrachtet. (2).

BASKULTUR: Von Santurtzi aus seid ihr mit der „Habana“ nach Frankreich gebracht worden?

JON: Ja, mit der „Habana“, ein Überseedampfer, riesengroß. Aber in Frankreich kamen wir dann auf ein anderes Schiff. Ein paar Betreuer waren auch mit dabei.

BASKULTUR: Das Schiff gewechselt – in Bordeaux?

JON: Nein, das muss weiter nördlich von Bordeaux gewesen sein. In der Nähe der Bretagne. Genau weiß ich das nicht mehr, immerhin war ich erst sechs Jahre alt. Von dort haben sie uns nach Leningrad gebracht, heute heißt das Sankt Petersburg.

BASKULTUR: Vor der Abfahrt, wusstest du was mit dir geschehen würde? Dass du weggebracht wirst?

KK03JON: Meine Eltern haben mir gesagt, dass wir weggehen. Wie lange vorher das war, weiß ich nicht mehr. Ich ging mit meiner Schwester, die vier Jahre älter war als ich. Zusammen haben wir diese Schiffsreise nach Leningrad gemacht. Eine Reise mit Seekrankheit und so weiter, normal. Manche sagten, die Nordsee sei ziemlich stürmisch. Von dort ging es mit einem Zug nach Jalta, auf der Halbinsel Krim. Eine lange Reise, aber wir kamen gut an.

BASKULTUR: Alle Kinder waren zusammen im Zug? Oder ist die Gruppe in Leningrad geteilt worden?

JON: Ich weiß nicht, ob es alle waren, jedenfalls viele. In Jalta waren wir ungefähr einen Monat lang, dann wurden wir nach Odessa gebracht, ganz in der Nähe. Dort waren wir bis zum Jahr 1941, bis uns die Invasion der Nazis erwischt hat. Wir haben mitbekommen, wie die deutschen Flugzeuge nachts mit Reflektoren identifiziert und beschossen wurden. Weil die Deutschen so nahe waren, wurden wir mit dem Zug in den Norden des Kaukasus gebracht, nach Krasnodar. Das hat sehr lange gedauert. Unterwegs kam es zu Bombenangriffen, die eine oder andere Stadt wurde beschossen.

BASKULTUR: Ihr seid also 1937 erst nach Jalta und dann nach Odessa gekommen. Was haben sie mit euch gemacht? In die Schule geschickt?

JON: Wir haben in einem Kinderhaus gelebt, dort lernten wir Russisch und Spanisch. Da waren junge Lehrer, die in Spanien ihre Lehrer-Ausbildung gemacht hatten. Die anderen waren Studenten. Wir haben gut gegessen, es gab Brot, zumindest bis 1941, als der Krieg begann.

BASKULTUR: Zu dem Zeitpunkt konntet ihr dann schon Russisch sprechen

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JON: Klar, ganz gut. Obwohl sie uns zu keinem Zeitpunkt in Familien untergebracht haben. Wir waren immer zusammen, in Kinderhäusern, wie wir das nannten.

BASKULTUR: Du warst immer zusammen mit deiner Schwester?

JON: Meine Schwester war in der Nähe, aber in einer anderen Gruppe, in einem anderen Haus, weil sie eben vier Jahre älter war. Unser Leben war einigermaßen normal. Im Sommer haben wir im Schwarzen Meer gebadet. Im Juni, glaube ich, begann die deutsche Invasion. Am 21. Juni, wenn ich mich recht erinnere …
Dann ging es wie gesagt mit dem Zug in den Nord-Kaukasus, in die Stadt Saratow. Eine sehr beschwerliche Reise. Saratow liegt nördlich von Stalingrad (heute Wolgograd) an der Wolga. Dort waren wir einen Winter lang, den Winter von 1941 auf 1942. Danach haben sie uns im Norden von Saratow in ein kleines Dorf gebracht, das vorher eine deutsche Kolonie gewesen war. Ich glaube, die Königin Katharina II war deutschen Ursprungs (3). Im Dorf gab es Landwirtschaft, das waren deutsche Bauern, die in Anbetracht der Nazi-Invasion zu ihrem Unglück nach Sibirien deportiert wurden. Stattdessen wurden wir dort einquartiert. An Hunger ist da niemand gestorben. Statt Reis aßen wir Hirse. Alle bekamen ein Stück Brot, nur Früchte gab es keine. Die Winter waren hart, es gab viel Schnee. Der Wolga-Fluss war gefroren, man konnte sogar mit Karren drüberfahren.

BASKULTUR: Wie weit entfernt war das von Stalingrad?

JON: Stalingrad liegt 400 Kilometer im Süden von Saratow. Das war eine Industriestadt mit einer Flugzeugfabrik. Dort sind diejenigen von uns geblieben, die älter waren als wir, um in den Fabriken zu arbeiten. Später wurden sie nach Tiflis in Georgien gebracht. Und wir in dieses deutsche Dorf. Wir haben gelernt und gearbeitet, im Sommer natürlich auch in den Gemüsegärten. Damals waren wir zwischen 12 und 14 Jahren. Im Jahr 1945 haben sie uns auf Dampfschiffen mit Radantrieb wie auf dem Mississippi nach Moskau gebracht. 70 Kilometer vor Moskau, das war schon befreites Gebiet, kurz danach war der Krieg zu Ende. Am 9. Mai war alles vorbei. Im Juni, Juli waren wir dann in Moskau. Zuerst in Vororten, danach wurden wir in Schulen gebracht, für alles war gesorgt. Die die Prüfungen bestanden, gingen Studieren, die nicht bestanden, gingen in eine chemische Fabrik. Zu denen gehörte ich. Dort arbeiteten wir vormittags und nachmittags wurden wir ausgebildet, vier Stunden Arbeit, vier Stunden Ausbildung. Ich zum Beispiel habe Elektriker gelernt. Damals war ich 15 Jahre alt. Als ich 16 Jahre war hat mich diese Familie Garcia eingefordert.

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JON: Erzähl mal, wie das war.

BASKULTUR: Mit Hilfe des Roten Kreuzes haben sie unsere Rückkehr beantragt. Das Rote Kreuz half mit neuen Kleidern und so weiter. Sie nannten uns die „russischen Kinder“ oder auch die „spanischen Kinder“. Nach Ende des Krieges war ich einer der ersten, die nach Spanien zurückkamen, ich habe noch Dokumente davon. Die Franquisten haben mich gut behandelt. Da war ein Hauptmann, der Chef an der Grenze.

JON: Aber wer hat denn nun deine Rückkehr aus der Sowjetunion beantragt?

BASKULTUR: Das war die Familie Garcia, meine Schwester und ich waren deren Nichte und Neffe. Die hatten auch die Rückkehr ihrer eigenen Kinder beantragt.

JON: Und deine eigenen Eltern konnten deine Rückkehr nicht beantragen?

BASKULTUR: Nein, meine Eltern waren ja in Spanien, die Familie Garcia war in Toulouse.

JON: Also, weil es keine diplomatischen Beziehungen gab zwischen Spanien und der Sowjetunion …

BASKULTUR: Richtig. Unsere Briefe schickten wir ebenfalls über Toulouse, von dort wurden sie weitergeschickt an meine Eltern. Frankreich und Spanien hatten diplomatische Beziehungen, Spanien aber nicht mit der Sowjetunion.

JON: Die Garcias hatten eine Reise nach Venezuela geplant. Denn der Schriftsteller Martin Ugalde und sein Vater lebten in Caracas. Der Bruder, seine Frau Neli und zwei Söhne wollten alle nach Caracas. Am Ende ging die ganze Familie Garcia nach Caracas. Ich kam nach Spanien über Dantzarinea in Navarra, ich erinnere mich an den kleinen Fluss, das war im Februar.

BASKULTUR: Bist du legal nach Spanien gekommen?

JON: Legal schon, aber ohne Pass. Mein Vater hatte ein Papier, das er von einem Polizeichef an der Grenze erhalten hatte. Das war in Irún. Ich kam in Dantzarinea an, dort gab es einen Bus nach Irún. Alle sagten, ich solle zu niemandem etwas sagen, sollte mich jemand belästigen, sollte ich anrufen. Das hatte ich mit meinen Eltern abgesprochen. So kam ich wieder nach Bolueta. Ich begann eine Ausbildung in Stenografie und blieb dann im Laden meiner Eltern.

BASKULTUR: Wie ging es in Bilbao weiter?

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JON: Den Militärdienst habe ich hier im Baskenland gemacht, in San Sebastián. Mit 19 Jahren habe ich den Führerschein gemacht. Da gab es nur die Fahrschulen Barcelona und Ortiz, wir waren nur sechs Schüler. Denn Autos gab es so gut wie keine. Den Führerschein habe ich gemacht aus Angst, dass sie mich zum Militärdienst nach Afrika schicken. Eine Familie, die in Santutxu mit Kohle handelte, wollte mich anstellen als Fahrer, um in Asturien Kohle von den Bergwerken zu holen. Deswegen habe ich den Führerschein gemacht. Wir selbst hatten damals kein Auto oder Ähnliches. Militärdienst also in San Sebastián, 1951 in der Loyola-Kaserne bei den Gebirgsjägern. Wer einen Führerschein hatte wurde nach Burgos gebracht, um dort mit Militär-LKWs zu üben. In der Kaserne war ich dann Chauffeur. Mit Offizieren musste ich in die Pyrenäen fahren, die machten Fotos von befestigten Stellungen mit verlassenen Geschützen. Ich fuhr einen kleinen Lastwagen mit Plane und hinten ein paar Extrasitzen. Das machte ich eineinhalb Jahre lang. Es war gut, jeden Freitag konnten wir nach Hause. Wenn kein Auftrag vorlag, konnten wir gehen.

BASKULTUR: Dass du ein „Kriegskind“ warst hatte keine Folgen für dich? Beim Militärdienst oder im privaten Leben – hattest du Probleme deshalb?

JON: Nein, ganz im Gegenteil. Der Militärdienst war optimal. Da habe ich ganz spezielle Dinge erlebt. Wir hatten einen Bus, als der Fahrer starb mussten wir in einer Schule von Zarautz Schülerinnen abholen und nach Dax in Frankreich bringen. Das heißt, ich war beim Wehrdienst und fuhr nach Frankreich! Natürlich ohne Uniform, nur mit einem Passierschein. Die Franzosen haben uns auch nicht behelligt. Für mich hatte es keine Konsequenzen, dass ich ein „Kriegskind“ gewesen war, da hatte ich Glück. Ich war in San Sebastián stationiert und konnte jedes Wochenende nach Hause.

BASKULTUR: Und deine Familie, hat sie Repression erlebt, weil du in Russland warst?

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JON: Nicht weil ich in Russland war. Mein Vater war in der Republik Sanitätsoffizier. Nach den Bombardierungen von Durango, Eibar und Gernika hat er Krankentransporte gemacht und Verletzte nach Bilbao gebracht. Auf dem Rückzug wurde er später in Santander festgenommen. Er war Freiwilliger bei der republikanischen Armee. Deshalb kam er ins Gefängnis, zuerst in die Jesuiten-Universität Deusto und dann ins Karmelo-Kloster, einige sagten, er sei Kommunist. Es gab Leute mit rechter Ideologie, die hatte mein Vater mit dem Krankenwagen nach Bilbao gebracht. Zum Beispiel zwei asturianische Lehrerinnen. Als sie hörten, dass mein Vater eingesperrt war, schrieben sie ihm Briefe, die habe ich noch zu Hause. Sie sagten, er hätte ihnen geholfen. So war er ungefähr zwei Jahre im Gefängnis. Unseren Laden hatten die Franquisten geschlossen. Aber nach meiner Rückkehr wurde ich überall gut behandelt, von der Polizei, in der Nachbarschaft. Gut, es gab Familien, die redeten nicht miteinander. Man muss bedenken, für Franco war es ein großer Erfolg, dass wir Kriegskinder wieder zurückkamen.

BASKULTUR: Haben sie aus dem Laden etwas rausgeholt?

JON: Meine Mutter erzählte, in der Decke sei ein Loch gewesen, da sei allerlei gestohlen worden, Haushaltsgegenstände. Aus der Zeit sind mir noch ein paar Dokumente geblieben, ein Pass zum Beispiel. Auf russisch, das habe ich ja ganz gut beherrscht.

BASKULTUR: Sprichst du noch Russisch?

JON: Nein, hier hatte ich keine Gelegenheit mehr dazu. Eine Unterhaltung kann ich auf Russisch nicht mehr führen. Einzelne Begriffe sind mir geblieben, Papier, Brille, Lebensmittel. Es sind so viele Jahre vergangen, seit 1947, das sind 70 Jahre.

BASKULTUR: Wie war das Ambiente, das du in der Sowjetunion erlebt hast?

JON: Wir Spanier wurden bevorzugt, wir galten als arme Kinder. Die sowjetische Regierung schickte uns nicht in Familien. Wenn sie das gemacht hätten, wie hätten wir zurückkommen sollen … ich kam an mit sechseinhalb Jahren, wir hatten zu essen, manchmal besser, manchmal schlechter, bis 1941 der Weltkrieg begann. Bis dahin hat es uns nicht an Essen gefehlt, wir wurden sehr gut versorgt. Dann wurden ganze Städte zerstört. Als wir mit dem Zug befördert wurden, hielten wir manchmal mitten in der Steppe, weil die nächste Stadt gerade bombardiert wurde. Dann ging es zurück und wir sahen die Folgen der Zerstörung. Wir fuhren durch Stalingrad, in der Gegend von Saratow gab es keinen Krieg. Auch nicht in dem kleinen Dorf, in dem wir untergebracht waren. Keine Bomben, keine Truppen, nichts.

BASKULTUR: Deine Schwester ist geblieben?

KK08JON: Ja, meine Schwester ist geblieben, keine Ahnung warum. Später hat sie einen Basken geheiratet, auch ein „Kriegskind“, wie dessen Bruder und seine Schwester. Der war ebenfalls aus Bilbao, meine Schwester hat ihn dort kennengelernt. Erst 1956 kam sie zurück, da hatte sie schon zwei Kinder. Damals kamen alle verbliebenen „Kriegskinder“, die nicht schon vorher zurückgeholt worden waren. Meine Schwester erlebte eine Willkommensfeier. Aber sie blieb nur sechs Monate. Ihr Mann war Fernsehtechniker und fand keine Arbeit, weil es hier kein Fernsehen gab. Also gingen sie wieder. Danach kamen sie alle drei Jahre für einen Monat.

BASKULTUR: Du hast also noch Familie in Russland.

JON: Ja, Nichten und Neffen. Aber keinen Kontakt mehr. Eine der Nichten lebt auf den Kanarischen Inseln. Denn früher kamen viele russische Fischkutter auf die Kanaren. Sie bewarb sich als Russisch-Übersetzerin und ist noch dort. Die Tochter meiner Schwester, zu ihr habe ich noch Kontakt, sie ist auch schon Großmutter.
Später bin ich Händler geworden. Mein Großvater war Weinhändler. Er hatte einen Laden in Bolueta, einen zweiten in Santutxu und eine Gaststätte in Indautxu. Ich blieb im Laden von Bolueta, später habe ich eine Kooperative gegründet. Und über Russland werde ich immer positiv reden, das steckt tief in meinem Herzen.

BASKULTUR: Hast du eine besondere Erinnerung?

JON: Die russische Revolution war ja im November. Zum Jahrestag gab es immer einen Aufmarsch am Roten Platz. Alle aus der Fabrik gingen da hin. 1945, 1946 war ich fünfzehn, sechszehn Jahre alt. Wir marschierten am Lenin-Mausoleum vorbei, oben stand Stalin. Und in Donostia, wo ich den Militärdienst machte, habe ich dann Franco in drei Meter Entfernung gesehen. Denn unser Bataillon war für den Schutz des Aiete-Palastes zuständig, in dem Franco immer seine Sommer verbrachte. Mit dem kleinen LKW habe ich das Essen von der Kaserne nach Aiete gebracht. Jede Kompanie hatte 24 Stunden Dienst, so habe ich Franco aus der Nähe gesehen.

BASKULTUR: Weißt du, warum du gerade in die Sowjetunion gebracht worden bist?

JON: Das haben jeweils die Eltern entschieden. Wir waren 8.000 Kinder, die nach Russland gebracht wurden, in andere Länder wurden 4.000 gebracht, nach England, Frankreich und Belgien, aber die wurden in Familien untergebracht. Wir dagegen blieben in Kinderhäusern. Warum in die Sowjetunion? Damals hieß es, dort sei das Paradies. In der Tat, die Gesundheitsversorgung war umsonst, das Studium war gratis, die Frauen waren den Männern gleichgestellt. Aber Politik hat mich nicht interessiert. Meine Eltern waren Sozialisten. Die waren überzeugt, dass es für mich das Beste sei. Alle, die nach Russland kamen, waren Kinder aus linken Familien, das war normal. Die Nationalisten schickten ihre Kinder nach Belgien, England und Frankreich. Die kamen auch alle relativ schnell zurück. In unserem Fall hat es länger gedauert, weil es keine diplomatischen Beziehungen gab. Wir haben viele deutsche Kriegsgefangene kennen gelernt. Auch welche von der blauen Division, von denen behauptet wurde, sie seien alle im Krieg umgekommen. Die tauchten plötzlich wieder auf, zumindest einige. (4)

KK09BASKULTUR: Als du mit 16 Jahren zurückgekommen bist, hast du den Führerschein gemacht und so weiter. Aber wie war der Umgang der Leute mit dir?

JON: Im Stadtteil kannten mich alle, die Franquisten haben bei uns im Laden nicht eingekauft. Über dem Laden war ein karlistischer Zirkel, auch noch unter Franco, die gehörten ja gewissermaßen zu den Siegern. Die sind gleich nach dem Militärputsch am 18. Juli 1936 als Freiwillige nach Vitoria (5) gegangen. Die einen meldeten sich als Freiwillige für die Republik, die andern als Freiwillige für die Putschisten.

BASKULTUR: Wir danken für das Interview!

 

(Publikation Baskultur.info 2019-01-26)

 

ANMERKUNGEN:

(1) Die von der baskischen Regierung evakuierten Kinder wurden „Niños de la guerra“ (Kriegskinder) genannt, gelegentlich auch „Niños de Guernica“ (Gernika-Kinder), nach dem brutalen Überfall der Nazis auf die bizkainische Kleinstadt, der zu mehr als 2.000 Toten führte. In der Sowjetunion wurde nicht zwischen baskischen und spanischen Kindern unterschieden, daher der Begriff.

(2) Bolueta ist ein Arbeiter-Stadtteil im Südosten Bilbaos, mit einer ehemals großen Stahlfabrik – Santurtzi ist eine Hafenstadt an der Flussmündung des Nervión (der durch Bilbao fließt, 13 Kilometer landeinwärts) mit einem bis heute großen Hafen, in früheren Zeiten war Santurtzi der Hafen für den internationalen Schiffsverkehr Bilbaos.

(3) Katharina II., genannt Katharina die Große (*2. Mai 1729 als Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst in Stettin; †6. November in Sankt Petersburg), war ab dem 9. Juli 1762 Kaiserin von Russland, Herzogin von Holstein-Gottorf und ab 1793 Herrin von Jever. Sie ist die einzige Herrscherin, der in der Geschichtsschreibung der Beiname "die Große" verliehen wurde. Katharina II. war eine Repräsentantin des aufgeklärten Absolutismus. (Wikipedia)

(4) División Azul – Blaue Division: eine freiwillige Truppe von spanischen Franquisten, die sich dem Nazifeldzug gegen die von ihnen verhasste Sowjetunion anschlossen. Franco selbst war peinlich darauf bedacht, diesen Einsatz nicht als offizielle Kriegsbeteiligung erscheinen zu lassen.

(5) Vitoria, baskisch: Gasteiz, ist die Hauptstadt der baskischen Provinz Araba (spanisch: Álava), seit 1978 gleichzeitig auch Hauptstadt der Autonomen Gemeinschaft Baskenland (Region innerhalb des spanischen Staates). Nach dem Militärputsch vom Juli 1936 stellten sich Polizei, Militär und politische Verantwortliche umgehend auf die Seite der Putschisten, sodass es in Araba fast keinen Krieg gab. Wohl aber – wie überall – brutale Verfolgung von Linken und baskischen Nationalisten.

ABBILDUNGEN:

(1) Bask. Kriegskinder in der SU (RT)

(2) Habana Schiff (cext)

(3) Kriegskinder in der SU (diario de noticias)

(4) Kriegskinder in der SU (santurtzi historia)

(5) Bask. Kriegskinder in der SU (eldiario)

(6) Bask. Kriegskinder in der SU (taringa)

(7) Kriegskinder in der SU (ministerio trabajo)

(8) Bask. Kriegskinder in der SU (elpais)

(9) Kriegskinder in der SU (ministerio trabajo)

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