Überraschender Bücherfund in Kopenhagen
Nicht im Baskenland selbst, sondern in der Königlichen Bibliothek der dänischen Hauptstadt Kopenhagen wurde eines der ältesten in der baskischen Sprache Euskara geschriebenen Bücher entdeckt, das jahrhundertelang als verschwunden galt. Zu jener Zeit gab es kein allgemein gültiges Euskara, die Sprache wurde in verschiedenen Dialekten praktiziert, sogenannten Euskalkis. Auch das wiedergefundene Buch war in laburdinischem Dialekt geschrieben, einer nordbaskischen Dialektvariante.
(2015-03-21) Ein Glückstreffer hat eine Gruppe junger baskischer Linguistinnen und Philologinnen zu einem besonderen Schatz geführt, der bis jetzt im Verborgenen lag. Es handelt sich um das erste Buch im klassischen baskischen Dialekt der baskischen Region Labourd, in Euskara Lapurdi (1) mit dem Titel "Doctrina Christiana" (Christliche Doktrin). Das Werk ist gleichzeitig eines der ältesten Schriftstücke der baskischen Sprache insgesamt. Geschrieben wurde die "Doctrina Christiana" im Jahr 1617 von einem Franziskanermönch namens Esteve Materra aus der Gascogne, der selbst nicht aus dem Baskenland stammte und dem nachgesagt wird, er habe die baskische Sprache bzw. den laburdinischen Dialekt in nur einem Jahr gelernt.
Wer war dieser Esteve Materra?
Viel ist nicht bekannt über das Leben dieses Franziskanermönchs, der manchmal auch Materre oder Matterre geschrieben wird. Ende des 16.Jhs wurde er geboren, zu Beginn des 17.Jhs kam er in baskische und südfranzösische Klöster. Dort studierte er Baskisch, wahrscheinlich zusammen mit seinem Freund Axular (1556 – 1644) (2). Der französische Sprachforscher Julien Vinson (1843 – 1926) schreibt in seinem 1890 erschienenen "Essai d'une Bibliographie de la Langue Basque", Materra sei zur Zeit des Erscheinens der "Doctrina Christiana" einer der Hüter des Klosters La Réole gewesen, im Jahr 1623 habe er sich im Kloster Toulouse aufgehalten (3). Informationen über Materra sind auch überliefert über den Priester, Philologen und Euskara-Förderer Manuel Larramendi (1690 – 1766). Dieser lobte Materre dafür, Euskara gelernt zu haben, ohne selbst aus Euskal Herria zu stammen (4).
Bei Esteve Materras "Christlicher Doktrin" handelt es sich um eines der ersten überhaupt in baskischer Sprache gedruckten Werke. Ihm vorangegangen waren lediglich das "Linguae Vasconum Primitiae" von Bernat Etxepare aus dem Jahr 1545 (5); das "Testamentu Berria, Kalendrera y ABC" von Joanes Leizarraga aus dem Jahr 1571 (6); die Sammlung "Sprichwörter und Zitate" (Refranes y Sentencias) aus dem Jahr 1596; "Die zweisprachige Doktrin" (La doctrina bilingüe) von Betolaza aus dem Jahr 1596 (7) und die "Doktrin von Sancho de Elso", die verloren ging (8).
Die 1617 publizierte erste Fassung von "Christliche Doktrin" ist für Kinder geschrieben und nach Fragen und Antworten geordnet, auf sehr einfache Art. In der zweiten Ausgabe wird bereits ein drittes Kapitel hinzugefügt, das Seeleuten gewidmet ist. Des Weiteren ist diese zweite Ausgabe bereits viel ausführlicher, bemerkenswert auch, dass Materra darin den Ton wechselt und sich nunmehr an ein erwachsenes Publikum richtet. Die "Doctrina Christiana" fand eine starke Resonnanz und wurde in der Folgezeit fünfmal neu aufgelegt, mit jeweils erheblichen Veränderungen. Obwohl durch indirekte Bezugnahmen bekannt war, dass die erste Ausgabe aus dem Jahr 1617 stammte, und zwar aus Bordeaux, so waren doch ihre Form und ihr Inhalt bis heute völlig unbekannt.
Historischer Zufallsfund
Die nunmehr berühmt gewordenen Linguistinnen gehören dem Verein "Aziti Bihia" an (9), der vor zwei Jahren von Forscherinnen und Forschern gegründet wurde, die ihre Doktorarbeiten an der Universität des Baskenlandes (UPV/EHU) vorbereiten. Der Vereinsname bezieht sich auf ein Sprichwort des souletinischen (10) Historikers und Literaturkritikers Arnaud Oihenart (11) und bedeutet soviel wie "Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm".
Ursprüngliche Absicht des Aziti-Bihia-Teams war, eine kommentierte Ausgabe des Exemplars der "Doctrina Christiana" von 1623 herauszugeben, das in Oxford aufbewahrt wird – die in jenem Jahr herausgegebene war die zweite und weitgehend überarbeitete Version der Doktrin. Doch ausgerechnet in der königlichen Bibliothek Dänemarks in Kopenhagen stießen die jungen Sprachforscherinnen auf das bisher unbeachtete Exemplar der "Doctrina Christiana" (12). Wie es dazu kam, beschreibt eines der Mitglieder von Aziti Bihia, Ekaitz Santazilla: "Als wir damit arbeiteten, fanden wir im Internet plötzlich eine indirekte Referenz zu Materra 1617 in der Bibliothek von Dänemark. Dieser Spur sind wir nachgegangen und fanden ein Buch, das zwar katalogisiert, jedoch nicht in Gebrauch war. Als wir es bestellten, schickten sie uns ein Faksimile und das war das Exemplar von 1617, das seit Jahrhunderten als verschwunden galt. Das war vielleicht eine Überraschung".
Santazilla verweist auf die Bedeutung des Fundstücks, "weil es sich um ein Buch handelt, das in den letzten Jahrhunderten niemand zu Gesicht bekam. Es wurde nicht einmal erwähnt. Alle, die von diesem Buch gesprochen haben, bezogen sich auf die zweite Ausgabe, also die von 1623. Wir wussten von seiner Existenz, weil es in irgendeinem Katalog erwähnt wurde, aber niemand hatte es jemals gesehen".
Zweifellos handelt es sich um ein wichtiges Objekt. Die "Christliche Doktrin" war Ausgangspunkt für den baskischen Dialekt, der klassisches Labortan genannt wird, der literarische Dialekt, der für die wichtigsten klassischen Werke in baskischer Sprache verwandt wurde, wie zum Beispiel in "Gero", von Pedro Axular. Der Dialekt diente im 20.Jahrhundert als Modell zur Entwicklung des vereinheitlichten Baskisch, das "Batua" genannt wird.
Vergleich der Editionen
"Wir müssen alle Ausgaben vergleichen, alle fünf, um zu sehen, wie sich unsere Sprache verändert hat. Materra hat lediglich die ersten beiden Ausgaben geschrieben", erklärt der Philologe, "beim Rest handelt es sich um erweiterte und veränderte Bearbeitungen. Es gibt deutliche Änderungen, selbst zwischen der ersten und der zweiten Ausgabe. Im Moment befindet sich das Team von Aziti Bihia in der Phase des Vergleichs der Ausgaben. Mit großer Genauigkeit analysieren sie jedes Wort, jeden Satz, jede Struktur, und vergleichen sie mit denen anderer Autoren jener Epoche. Gesucht werden Sprach-Muster, um daraus sprachliche Regeln ableiten zu können.
Der Franziskaner Materra
Über den Franziskaner Esteve Materra weiß der Forscher Ekoitz Santazilla zu berichten, dass er von Gascogne (euskera: Gaskoinia) nach Labourd (euskera: Lapurdi) geschickt wurde, "um Ordnung in katholische Themen zu bringen, mitten in Zeiten der Reformation und der Hitze der Inquisition". Auch er betont, in welch kurzer Zeit der Geistliche die baskische Sprache erlernt hatte: "Er lebte nur wenige Jahre in Euskal Herria und lernte Euskera in zwölf Monaten – fast unglaublich. Außerdem ist das Buch in einem perfekten labortanischen Euskara (euskera labortano, baskischer Lapurdi-Dialekt) geschrieben, was uns natürlich zu denken gibt. Möglicherweise konnte er mit der Hilfe von anderen rechnen, allerdings ist dies vorerst nur eine Hypothese", ergänzt der Philologe.
Dennoch hat die Hypothese ein gewisses Fundament, denn im Vorwort des Buchs, dort wo die Bewilligungen für die Veröffentlichung der Doktrin aufgelistet sind, erscheint unter anderen der Name Axular, Autor von "Gero". "Materra sagt, dass ihm die göttliche Inspiration beim Schreiben des Buches half, aber es ist auch nicht verwerflich, davon auszugehen, dass ihm noch jemand anderes half. Selbstverständlich muss dies nachgewiesen werden und im Moment haben wir keine Anhaltspunkte", fährt der Forscher fort.
Bei der Wichtigkeit des Buches ist es erstaunlich, dass Materras Lebensdaten weiteghend unbekannt sind, nur über die Zeit in Euskal Herria und Toulouse ist Information zu findeneburtsdatum, kein Todesjahr, so als ob der Mönch aus dem Nichts aufgetaucht und im Nichts verschwunden sei. Unklar ist auch, wie das Buch aus der Gascogne nach Kopenhagen gelangt ist, doch vierhundert Jahre sind eine lange Zeit. Vielleicht liefert die Königliche Bibliothek Kopenhagens auch darauf noch Hinweise oder Antworten.
ANMERKUNGEN:
(1) Dialekte des Baskischen im spanischen und französischen Baskenland: Die Sprachwissenschaft unterscheidet in der Regel sieben Hauptdialekte der baskischen Sprache Euskara. Im spanischen Baskenland sind dies die Dialekte von Bizkaia (Biskayisch, auch Vizcainisch), Gipuzkoa (Gipuzkoanisch), Araba (Álava) (existiert nicht mehr) und Nafarroa (Obernavarrisch). Im französischen Baskenland sind es die Dialekte von Lapurdi (Laburdinisch, auch Labourdisch), Nafarroa Beherea (Niedernavarrisch) und Zuberoa (Suletinisch, auch Soulisch). Diese Dialekte lassen sich noch einmal in mindestens 25 Subdialekte untergliedern. Sie werden nach den (ehemaligen) Provinzen eingeteilt. Die Dialektunterschiede sind nicht sehr groß, Nachbardialekte sind gegenseitig gut verständlich, am stärksten weicht der östlichste "französische" Dialekt, der Dialekt von Zuberoa (Suletinisch) ab. Drei Hauptgruppen werden unterschieden 1. Biskayisch, 2. Gipuzkoanisch, Labourdisch und Obernavarrisch, 3. Niedernavarrisch und Soulisch.
Eine Aufteilung der baskischen Dialekte in drei separate Sprachen – spanisches Baskisch, Navarro-Labourdin und Souletin, wie sie Ethnologue vornimmt – entspricht trotz der starken Abweichung des suletinischen Dialekts nicht der wissenschaftlichen Literatur.
Aus dem zentralen Dialekt von Gipuzkoa und auf der Basis früherer Standardisierungs-Projekte hat die Baskische Akademie unter der Leitung von Koldo Mitxelena (Luís Michelena) seit 1968 einen Sprach- und Schriftstandard Euskara Batua (Vereinigtes Baskisch) geschaffen. Seit 1980 sind mehr als 80% aller baskischen Publikationen – immerhin rund 5.000 Titel – in dieser standardisierten Sprache erschienen, die sich langsam auch als gesprochene Hochsprache durchzusetzen beginnt.
http://de.wikipedia.org/wiki/SIL_International#Ethnologue_und_ISO_639-3
(2) Pedro de Aguerre y Azpilikueta (Urdax, Navarra, 1556 – Sara, Iparralde, 1644), bekannt unter dem Namen Pedro de Axular wird häufig als der baskische Cervantes bezeichnet wegen der Bedeutung seines literarischen Werks in baskischer Sprache. (Übersetzung aus Wikipedia)
(3) Julien Vinson (1843 - 1926) war ein französischer Linguist, spezialisiert auf die Sprachen Indiens, vor allem Tamilisch, aber auch auf die baskische Sprache. Julien Vinson wurde in eine französische Familie geboren, die in Pondicherry, Indien lebte. Bereits in jungen Jahren lernte er die Landessprachen Indiens. Er studierte Forstwirtschaft in Nancy und war Abgeordneter für Forst- und Wasserwirtschaft. Seine freie Zeit widmete er der Linguistik. Er war Mitarbeiter der "Revue orientale" und später der "Revue de linguistique et de philologie compare". Er war Anhänger der naturwissenschaftlichen Linguistik-Schule, im Gegensatz zur Schule vergleichender geschichtlicher Linguistik, die Michel Bréal and Gaston Paris repräsentierten. (Übersetzung aus Wikipedia)
(4) Manuel Larramendi (Gipuzkoa, 1690 – 1766) war Schriftsteller, Priester, Philologe und Geschichtswissenschaftler. Er förderte die baskische Sprache und Kultur in der sogenannten Illustrations-Epoche. Zugleich war er ein früher Fürsprecher des Foralismus und des baskischen Nationalismus. Larramendi ist einer der Väter der Literatur in Gipuzkoanischem Dialekt und der erste baskische Folklorist. (Übersetzung aus Wikipedia)
(5) Bernat Etxepare (Iparralde, 1480 – 1545) schrieb 1545 das "Linguae Vasconum Primitiae" (Die primitive baskische Sprache), dabei handelte es sich um das erste in baskischer Sprache geschriebene literarische Werk. Herausgegeben wurde es in Bordeaux, es blieb sein einziges Werk. Etxepare war Pfarrer der Saint-Michel-le-Vieux Kirche der Ortschaft Eyheralarre, in der Nähe des Städtchens St.Jean-Pied-de-Port (bask: Donibane Garazi, span: San Juan Pie de Puerto). Sein Geburtsdatum ist nicht genau bekannt. Er lebte in einer für das Königreich Navarra schwierigen Phase, in der sich Navarra der kastilischen Monarchie gegenüber sah, die Eroberungsabsichten hatte. (Übersetzung aus Wikipedia)
(6) "Testamentu Berria, Kalendrera y ABC", von Joanes Leizarraga Lermanda wurde 1571 veröffentlicht (Neues Testament, Kalender und Alphabet). Leizarraga ist auch bekannt unter dem Namen Jean de Liçarrague, wurde 1506 in Briscous in der Region Labort (Bask: Lapurdi) geboren und starb 1601 in La Bastide-Clairence. Über seine Jugend ist nur bekannt, dass er Pfarrer wurde. Im Jahr 1591 stellte er sich auf die Seite der protestantischen Reform, dafür wurde er verfolgt und eingesperrt. Wie andere Protestanten wurde er von Juana III de Albret, der liberalen Königin von Navarra protegiert. Im Auftrag der Synode von Pau von 1564 übersetzte er das Neue Testament zum ersten Mal ins Baskische. Die Ausgabe bestand aus drei Teilen: dem Neuen Testament, einem Kalender der christlichen Feiertage und grundlegenden Anleitungen zum Lernen und Lesen des Werkes. 1571 wurde das Werk publiziert, nachdem es von vier weiteren Geistlichen überarbeitet worden war (Sanz Tartas, Piarres Landetcheverry, Tardetz, Joannes Etcheverry). Der Schreibstil macht deutlich, dass das Buch für Baskisch-Sprechende aus Iparralde (Nordbaskenland) formuliert wurde, obwohl der Schreib-Dialekt nicht eindeutig ist. In seiner Übersetzung taucht der navarrisch-labortanische Begriff "heuscal herria" (Euskal Herria, País Vasco, Baskenland) auf, auch findet sich ein Hinweis darauf, das der Gebrauch der baskischen Sprache von der Aufteilung in Dialekte geprägt ist. (Übersetzung aus Euskomedia)
(7) Juan Pérez de Betolaza ist nach heutigem Wissen der Autor der ältesten Christlichen Doktrin in baskischer Sprache, im Araba-Dialekt. Sie wurde 1596 in Bilbao publiziert und nach seinem Tod 1600 mehrfach neu aufgelegt, aus diesem Grund sind einige Ausgaben erhalten geblieben. (Übersetzung aus Euskomedia)
(8) "La doctrina de Sancho de Elso" (Die Doktrin von Sancho de Elso) wurde geschrieben von einem navarrischen Pfarrer und gilt als das erste Werk in baskischer Sprache aus Niedernavarra. Herausgegeben 1561 ist kein Exemplar mehr erhalten. Ziel des Werks war die religiöse Unterweisung der Gläubigen, um den protestantischen Vormarsch zu bremsen. (Übersetzung aus Euskomedia)
(9) Aziti Bihia – Hizkuntzalari eta Filologoen Elkartea (Vereinigung von Sprachwissenschaftlerinnen und Philologinnen)
https://sites.google.com/site/azitibihia/
(10) Souletin, oder Zuberoan (Baskisch: Zuberera) ist der baskische Dialekt, der in der Provinz Soule gesprochen wird. Im Standard-Baskisch Batua ist der Dialekt bekannt als Zuberera (Provinzname Zuberoa plus das Sprachen-Suffix -era), lokal wird auch von Üskara, Xiberera oder Xiberotarra gesprochen. Auf Spanisch werden die Begriffe Souletino oder Suletino benutzt.
(11) Arnaud Oihenart, oder auch: Arnaldo de Oyenart (Maule, 1592 – Donapaleu, 1667) war Jurist, Politiker, Historiker, Poet und Literaturkritiker aus Soule, er sprach Latein, Französisch und Euskara. (Übersetzung aus Wikipedia)
(12) Der vorliegende Artikel, vor allem die Zitate, basieren auf einer Publikation der baskischen Tageszeitung Deia vom 17.2.2015 unter dem Titel "Hallado el primer libro escrito en euskara labortano clasico" (Erstes in klassischem Labortano-Euskara geschriebenes Buch entdeckt).
http://www.deia.com/2015/02/17/ocio-y-cultura/cultura/hallado-el-primer-libro-escrito-en-euskera-labortano-clasico
ABBILDUNGEN:
(1) Das Faksimile ist aus der baskischen Tageszeitung DEIA
(2) Alle weiteren Abbildungen wurden Baskultur.info von Txeng zur Verfügung gestellt, es handelt sich um Fotografien von Seiten der Tageszeitung BERRIA