Alte Meister neu interpretiert
Plagiate anzufertigen war nicht entfernt das Anliegen des baskischen Künstlers José Ibarrola, als er begann klassische Gemälde aus der Zeit des sog. Quattrocento als Ausgangspunkt zu nehmen für Skulpturen und Bilder, mit denen er das Alte neu interpretierte, indem er diese Werke neu gestaltete, teils in neuer Form. So wandelt Ibarrolas Ausstellung, die aktuell in Bilbao zu sehen ist, auf dem Grat zwischen kunsthistorischer Wiedererkennung und Neuinterpretation – alles ist „Eine Frage der Zeit“.
„Eine Frage der Zeit“ (Cuestión de Tiempo) ist der Titel einer Ausstellung im Rekalde-Saal von Bilbao, mit der der baskische Künstler José Ibarrola seine Interpretationen des Quattrocento vorstellt.
José Ibarrola ist ein Künstler mit verschiedenen Facetten als Maler, Bildhauer, Comic-Zeichner und Theatermacher. Als Sohn des (umstrittenen) Malers und Bildhauers Augustin Ibarrola wuchs er auf in einer Welt von Kunst und Politik. 1955 geboren machte er bereits mit 17 Jahren seine ersten Schritte als Künstler. Mit 19 erlebte er – bei einem Ausstellungs-Projekt zusammen mit seinem Vater – die franquistische Zensur. „Die ersten 10 Jahre meines Lebens habe ich auf Reisen verbracht, ich kam durch Dänemark, Basauri, Paris und Burgos. Als Sohn eines Malers, als Sohn eines Malers mit breitem Pinsel und einer Teilzeit-Krankenschwester, als Sohn von Boheme-Eltern, als Sohn von Personen, die an illegalen Aktivitäten beteiligt waren, als Sohn der Kunstgruppe „Equipo-57“, als Sohn eines politischen Gefangenen, als Sohn der Umstände …“ – so beschreibt Ibarrola selbst seine Kindheit (1).
Im Jahr darauf brannte eine faschistische Organisation mit Polizei-Hintergrund – die „Guerrilleros de Cristo Rey“ – das Landhaus der Ibarrolas nieder, in dem sich auch die Werkstatt befand (2). „Dort war ich als Künstler, als Person und als Schiffbrüchiger groß geworden. Auf diese Weise endete mein zweites Lebens-Jahrzehnt. Nebenbei starb auch Franco“. 1976 stellte José Ibarrola in verschiedenen Städten und Ländern zum ersten Mal alleine aus. Er begann bei verschiedenen Comic-Zeitschriften mitzuarbeiten, publizierte selbst Comics. Daneben arbeitete er mit Theatergruppen zusammen, und war Zeichner für verschiedene Tageszeitungen – eine Tätigkeit, die sich über die nächsten Jahrzehnte verlängern sollte.
Entstehung der Quattrocento-Idee
„Ich denke, ich werde die Kreuzabnahme von Rogier van der Weyden malen“, sagte José Ibarrola vor drei Jahren (2013) zu seiner Frau Maite. Das um 1440 entstandene beeindruckende Ölgemälde des flämischen Malers war eines der Werke, welches das Ehepaar aus Bilbao bei seinen Besuchen im Museo del Prado in Madrid regelmäßig aufsuchte. „Wir hatten beide Grippe und ich vermute, dass sie dachte, ich spräche im Fieberwahn“, bekennt der Künstler amüsiert. Doch weit entfernt von einer Fieberattacke wurde jener Besuch zum Keim einer „Begegnung der besonderen Art“ mit den Meistern des Quattrocento (3). Das Ergebnis dieser fruchtbaren Verbindung ist die Ausstellung „Cuestión de tiempo“(Frage der Zeit), in der Ibarrola sich aus zeitgenössischer Sicht mehreren klassischen Werken der genannten Kunstepoche nähert. Die aus 125 Werken bestehende Ausstellung ist in Bilbao im Sala Rekalde den ganzen Sommer 2016 zu sehen (bis 16. Oktober).
Fotoserie der Ausstellung Bilbao 2016: Eine Frage der Zeit (Cuestión de Tiempo)
Trailer zur Ausstellung (Link)
Technik der Neu-Interpretation
Die von José Ibarrola benutzte Technik der Neu-Interpretation des Quattrocento ist so einfach wie kompliziert. Für seine Gemälde und Skulpturen nahm er sich ein klassisches Original und verfremdete mit Holzverschnitten das Motiv, statt der in den Originalen vorhandenen Gesichter erscheinen Holzklötze, zu sehen unter dem o.g. Link. Im Folgenden ein Interview mit dem Künstler José Ibarrola. (4)
Was verbirgt sich hinter dem rätselhaften Titel der Ausstellung „Frage der Zeit“? - Es ist ein geflügeltes Wort und mir gefallen diese Ausdrücke, die je nach Zusammenhang unterschiedliche Bedeutung haben können. Mit diesem Titel wollte ich zum Ausdruck bringen, dass es für mich eine Frage der Zeit ist, bis darüber entschieden wird, welche Kunstart sich am Ende gegen die andere durchsetzt, es ist eine Frage der Zeit, dass wir gewisse Dinge vergessen. Die Zeit ist ein entscheidender Faktor bei der Entwicklung der Kunst und hat manchmal unerwartete Auswirkungen.
In diesem Fall haben Sie Ihr künstlerisches Schaffen auf eine sehr konkrete künstlerische Periode eingegrenzt: Quattrocento (1400-1500). - Genau. Es handelt sich um eine Etappe, die sich ins kollektive Bewusstsein eingeprägt hat, ein leicht wiederzuerkennender Stil. Genau aus diesem Grund erschien sie mir ein angemessener Zeitrahmen, um eines der Ziele der Ausstellung zu erreichen: die Verschmelzung zwischen Skulptur und Malerei. Eine Möglichkeit sie zu verbinden ist, zu sehen wie die Zeit einige dieser Ikonen aufgebaut, geschliffen und gemeißelt hat. Der Wissenschaftler Tzvetan Todorov (5) sagte, das 15. Jh sei die Zeit, in der die Sinnbilder sterben und das Individuum geboren wird. Genau so ist es. Es wird der Künstler geboren, das ist nicht mehr der Kunsthandwerker, der seine Werke signiert. In jener Zeit entstand in Venedig das Gemälde als bewegliches Objekt, denn bis dahin waren die Werke absolut instrumental und beschränkt auf Kirchen und Paläste. Wir könnten sagen, es war die Geburtsstunde dessen, was wir heute ganz selbstverständlich Kunst nennen.
Sie sprechen von diesen Ikonen als etwas, das die Gesellschaft weitgehend verinnerlicht hat. Trotzdem bieten Ihre Skulpturen einen neuen Blick auf diese Gemälde, einen zeitgenössischen Blick. - Richtig. Es sind keine Kopien, in keinster Weise. Obwohl ich mir selbst eine gewisse Arbeitsdisziplin auferlegt habe, die mit der Art zu malen im 15.Jh in Verbindung stand. Mir persönlich gefallen die italienischen Maler besser als die flämischen, weil sie von der Freskenmalerei kommen, einer sehr flinken und unmittelbaren Malerei, fast ohne die Möglichkeit der Korrektur. Im Gegensatz dazu entwickeln die Brüder van Eyck eine minutiöse Malerei, von Pixel zu Pixel. Ich denke, dass es in dieser Ausstellung eine Menge Leute mit Handys geben wird auf der Suche nach dem Original, weil das Internet ein großes Museum ist und die Verlockung, nachzuschauen ist ständig präsent. Aber ich wollte das Original nicht nennen, um das Spiel der Suche nach den sieben Fehlern nicht aufkommen zu lassen. Das Spiel, das ich vorschlage, ist: während du dir das Bild anschaust, siehst du zum einen das Bild, aber gleichzeitig lässt deine Erinnerung vor deinem inneren Auge das Original erscheinen. Diese Verbindung scheint mir sehr interessant.
Die Betrachterinnen, die sich einem Ihrer in diesen letzten drei Jahren geschaffenen Werke gegenüberstellen, können also eine künstlerische „Umarmung“ zwischen Malerei und Skulptur bewundern. Wie kam es zu diesem Schrittt, Elemente der Bildhauerei in Ihre Gemälde einzubringen? - Es ist schon eine Weile her, dass ich anfing, mich beidem zu widmen, der Malerei und der Bildhauerei, aber beides verlief parallel. Dann kam ein Zeitpunkt, an dem ich dachte, ich könnte die beiden Techniken einander annähern. Aber ich sah, dass ich einen Rahmen brauchte, ein besonderes Konzept für die Begegnung, bei der sich sowohl Skulptur als auch Gemälde wohlfühlen konnten. Mir fiel kein besserer Rahmen ein als die Epoche des Quattrocento. Jemand könnte feststellen, ich hätte mit dieser Ausstellung einen Zyklus abgeschlossen, ich denke, dass mir die Neu-Interpretation der Klassiker gelungen ist. Das bedeutet nicht, dass ich mich ab jetzt mein ganzes Leben lang damit beschäftigen werde, aber von nun an öffnen sich neue Türen, um daran weiter zu arbeiten.
Bedeutet das also, dass wir in der Zeit zurückblicken müssen, um vorwärts zu kommen? - Ja, da ist ein Stück Wahrheit drin. Es bedeutet, zurückzuschauen, aber mit neuen Augen. In der Kunst existiert die Mode, alles von gestern als veraltet zu bezeichnen. Kann jemand wirklich denken, dass Kunst obsolet wird? Ich denke nicht. Was sich ändert sind die Mittel und die Technologie, weil die Welt sich weiterentwickelt, aber dennoch berührt mich persönlich ein Gemälde von Velázquez sehr. Gefühle sind nicht der Zeit unterworfen. Dennoch ist das politisch Korrekte in der Kunst der Bereich, der die meisten Experimente erfährt. Selbstverständlich muss dieser Bereich seine Parzelle belegen, doch darf er nicht an erster Stelle stehen, weil dies bedeuten würde, die Gesellschaft und das Publikum außen vor zu lassen. Viele Leute gehen heutzutage ins Museum, um Inszenierungen von musealen Spektakeln beizuwohnen, aber nicht, um sich die Ausstellungen anzusehen – das kann nicht sein. In meiner Vorstellung als Kunstschaffender spielt das Publikum immer eine wichtige Rolle und ich kann nicht verstehen, wie eine Gleichung ohne Publikum aussehen könnte.
Sie laden die Besucherinnen auch ein, gemeinsam mit Ihnen über die Welt der Kunst zu reflektieren. -Darüber spreche ich gerne. Wie haben Künstler all das geschaffen, was in der Zeit des Quattrocento entstanden ist? Zurückschauen ist gut, aber nicht auf das unmittelbar Zurückliegende. Sie gehen viel weiter zurück und betrachten die klassische Kunst. Ich möchte an dieser Stelle das Recht einfordern, dass wir nicht ständig dazu gezwungen werden, nach vorn zu schauen, sondern dass wir auch zurückschauen dürfen, aber natürlich um vorwärts zu gehen. Ich fordere die Bedeutung der Malerei ein, der Bildhauerei, der Manufaktur, dass wir Künstler weiterhin fähig sind, mit unseren Händen zu arbeiten. Letztlich ist es mein Gehirn, das malt, nicht meine Hände. Außerdem fordere ich die Gestik ein, den Kontakt mit dem Material und vor allem, dass wir Fehler machen dürfen.
Ist es die Fähigkeit, uns nach einem Absturz neu aufzuraffen, die dazu beiträgt, uns weiterzuentwickeln? - Ja, und sie ist entscheidend bei der Schaffung eines Werks. Während ich male, wird gerade der Fehler oder der Missgriff zum entscheidenden Moment. Der Irrtum dient einem selbst dazu, zu lernen, aber auch, um nicht in eine bloße Imitation zu verfallen.
Sie erwähnen die enorme Kapazität, die der Kunst innewohnt, um Zeit zu überwinden und die Betrachterinnen zu berühren. Ist dies auch der rote Faden in den Werken, die diese Ausstellung ausmachen? - Klar. Ohne Übertreibung, weil wir in einer sehr sensiblen Zeit leben, ist die Emotion absolut wichtig. Wir können nicht auf sie verzichten, weil uns das in den Wahnsinn führen würde. Sie muss dosiert sein, aber sie muss in der Kunst immer vorkommen. Als die neue künstlerische Avantgarde entstand, sollte mit ihr der „neue Mensch“ geschaffen werden. Und eines der Dinge, die verboten wurden, war das Gefühl, weil gebrochen werden sollte mit allem was die Kunst früher ausmachte. All das haben wir ein Jahrhundert lang ziemlich stark verinnerlicht und ich denke, dass heute die Suche nach der Schönheit in der Kunst einem revolutionären Akt gleichkommt. In dieser Ausstellung suche ich die Schönheit als befreienden Akt, selbst bei Themen wie Schmerz und Leid.
Können wir die „Kreuzabnahme“ von Rogier van der Weyden dafür als Beispiel betrachten? Das Gemälde lädt das Publikum dazu ein, in seinen Kosmos einzutauchen. - So ist es. In Werken wie diesem sprechen wir von einem Bereich, in dem die Künstler versuchten, all diese Emotionen mit Hilfe von Schönheit und Harmonie einzubringen. Ich habe es als Eingangsbild für die Ausstellung ausgewählt, weil es das erste Gemälde ist, das ich malte und weil es mir den Weg wies. Für mich war es eine wunderbare Begegnung, weil es mir überraschend leicht fiel, sicherlich, weil mein Gehirn die Zutaten für die Idee schon bereitgelegt hatte. Dieses Gemälde hat mir immer schon das menschliche Leid vermittelt, die Version des Opfers. In dem Moment, in dem das Opfer seines Symbols beraubt wird – in diesem Fall das Kreuz – verwandelt es sich in einen leblosen Körper, der nur noch die Nahestehendsten zur Seite hat.
Sala Rekalde
Das Museum Sala Rekalde ist ein Ausstellungs-Saal, den die Provinzregierung Bizkaia bereit gestellt hat. Im Gegensatz zu den berühmten Konkurrenz-Museen widmet sich Rekalde mehr der abstrakten Kunst, die Namen der ausstellenden Künstlerinnen und Künstler sind weniger bekannt. Wer den Ausstellungsraum sucht, läuft Gefahr daran vorbeizugehen, weil außer einem großen Schaufenster kaum etwas auf Kunst und Museum hinweist. Entsprechend sind auch die Besuchszahlen nicht vergleichbar mit den anderen Kunsträumen Bilbaos. Neben dem Alhondiga-Ausstellungsraum ist Sala Rekalde der einzige Kunstraum Bilbaos (außer privaten Galerien), in dem kein Eintritt verlangt wird. Die Ausstellung „Eine Frage der Zeit“ (Cuestión de Tiempo) von José Ibarrola ist zu sehen vom 13. Juli bis zum 16. Oktober 2016 (6).
ANMERKUNGEN:
(1) José Ibarrola – Autobiografie (Link)
(2) Guerrilleros de Cristo Rey (Link)
(3) Unter Quattrocento (italienisch für vierhundert, von millequattrocento‚ 1400) verstehen Historiker und Kunsthistoriker die Zeit der Früh-Renaissance in Italien. Das Quattrocento entspricht in unserer Zeitangabe dem 15. Jh. Die Jahrhunderte wurden in der italienischen Sprache sinngemäß mit Duecento, Trecento, Quattrocento, Cinquecento, Seicento, etc. bezeichnet. (Wikipedia)
(4) Information zu diesem Artikel aus „La busqueda de la belleza en el arte es hoy un acto revolucionario“, Tageszeitung Deia 14. Juli 2016 (Die Suche nach der Schönheit in der Kunst ist heutzutage ein revolutionärer Akt)
(5) Tzvetan Todorov (1939 Sofia, Bulgarien) Schriftsteller und Wissenschaftler: Forschungstätigkeit in Soziologie, Politik, Philosophie, Geschichte, Linguistik, Literaturwissenschaft und Semiotik. Er lebt und lehrt in Paris.
(6) Sala Rekalde Bilbao (Link)
FOTOS:
(1) Ausstellung „Cuestión de Tiempo“ von José Ibarrola im Museum Sala Rekalde von Bilbao (Foto Archiv Txeng – FAT)
(2) Foto Wikimedia (Link)
(3) Ausstellung „Cuestión de Tiempo“ von José Ibarrola im Museum Sala Rekalde von Bilbao (Foto Archiv Txeng – FAT)
(4) Ausstellung „Cuestión de Tiempo“ von José Ibarrola im Museum Sala Rekalde von Bilbao (Foto Archiv Txeng – FAT)
(5) Ausstellung „Cuestión de Tiempo“ von José Ibarrola im Museum Sala Rekalde von Bilbao (Foto Archiv Txeng – FAT)
(6) Ausstellung „Cuestión de Tiempo“ von José Ibarrola im Museum Sala Rekalde von Bilbao (Foto Archiv Txeng – FAT)