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Von Höhen und Gewichten

„Steile Gegenden lassen sich nur durch Umwege erklimmen, auf der Ebene führen gerade Wege von einem Ort zum andern,“ schrieb Goethe zum Thema Reisen. Von Guizot stammt: „Die Erfahrung lehrt, dass diejenigen, die viel reisen, an Urteilskraft gewinnen; dass die Gewohnheit, fremde Völker und Sitten zu beobachten, den Kreis ihrer Ideen erweitert.“ „Reisen ist besonders schön, wenn man nicht weiß, wohin es geht. Aber am allerschönsten ist es, wenn man nicht mehr weiß, woher man kommt.“ Von Laotse.

Der Weg ist das Ziel: Die folgende Reiseerzählung ist von einem Germanen, der auszog, im Baskenland das Fürchten zu lernen und der überraschenderweise bereits unterwegs in die Mühlen der Bürokratie geriet.

Entfernungen und Bewegungen richtig einzuschätzen gehört zu den elementaren sinnlichen Lernprozessen und Fähigkeiten. Jede Handreichung erfordert ein gutes Maß an Erfahrung und Einschätzung. Wer wollte sonst einen Ball fangen oder beim Einkauf das Maß eines benötigten Regals angeben, wenn nicht vorher die Hilfe eines Metermaßes in Anspruch genommen wurde. Da hilft kein Wissen aus der Physik, keine Formel V gleich G durch T. Bei der Einschätzung der Strecken von Spaziergängen oder Autofahrten hilft uns nur die Erfahrung, zusammen mit dem Wissen, wie viele Kilometer pro Stunde wir zurückzulegen in der Lage sind.

Zur Angabe von kleineren Längen und Entfernungen haben wir gelernt, bekannte Maßstäbe anzulegen, die Länge eines Dreißig-Zentimeter-Lineals etwa, einer Laufbahn oder die eines Schwimmbads. Doch trotz der Reise auf den Mond und dem Rauschen durch die Untiefen des Internet sind wir Menschen äußerst zweidimensionale Wesen geblieben. Denn wenn es darum geht, Höhen zu schätzen, sind wir bereits mit einem Problem konfrontiert. Die Höhe eines Kirchturms anzugeben oder die Flughöhe eines Hubschraubers kann zu einiger Ungenauigkeit führen. Schon der Anblick eines sechsstöckigen Hauses führt mehr zum Rechnen als zum spontanen Schätzen. Was über das Doppelte der eigenen Körpergröße hinausgeht, gerät schnell zur bloßen Raterei. Ein wahrhaft seltsames Defizit, vielleicht ein Zeichen unserer Erdverwachsenheit.

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Ähnlich verhält es sich mit Gewichten. Nach unten wie nach oben. Den Brief mit der Hand zu wiegen, ohne den Postbeamten zu Rate zu ziehen, hat schnell eine Nachgebühr zur Folge: „Dabei hätte ich geschworen, der hat nicht mehr als 20 Gramm.“ Ein Kilo liegt uns noch ganz gut bemessen in der Hand, mit einem Tetrapack Milch als Anhaltspunkt. Danach geht es schnell in die Kategorien: leicht, schwer und keine Ahnung. Das subjektive Limit ist verbunden mit der individuellen Hebefähigkeit. Ob ein Schrank 150 oder 300 Kilo wiegt, eine Holzkiste 20 oder 30, das entschwindet schnell der unserer Bestimmungsfähigkeit. Eine Ungenauigkeit, die mitunter schwerwiegende Folgen haben kann.

Unter diesen Vorzeichen begab es sich, dass ich einen Umzug von beträchtlicher Entfernung zu bewerkstelligen hatte. Aus dem Norden Deutschlands in den Süden des Baskenlands, nach Bilbao, um genau zu sein. Eine Distanz, die niemand gerne zwei Mal fährt, schon gar nicht für einen Umzug, bei der es also auf höchstmögliche Effektivität ankam. Im konkreten Fall hieß das, auf das maximale Fassungsvermögen eines Kleinbusses, auf das Ausnutzen jeder noch so kleinen Nische. So weit, so gut. Doch war ich ein ausgesprochener Bücherfreund. Meine Möbel hatte ich weitgehend zurückgelassen, und mich auf die geliebten Stücke beschränkt. Sogar von einem guten Teil des vertrauten Lesestoffes hatte ich mich traurig, aber vorausschauend und der Vernunft gehorchend verabschiedet und sie einem Freund hinterlassen, bei dem ich sie in guter Verwendung wusste.

Der Tag des Ladens kam. Ich hatte den Überblick verloren, ob es sich nun um 30 oder 40 Bananenkartons handelte, die gut gefüllt im zwischenzeitlichen Lagerraum standen. Ein Teil war ohnehin nur mit Kleidern gefüllt und wog fast nichts. Als wir die ersten Kisten verfrachtet hatten, schwante mir bereits, dass nie und nimmer alles Platz haben würde. Kisten von minderer Wichtigkeit wurden deshalb vorsorglich aussortiert. Gleichzeitig wurden Kleiderkartons wieder entpackt und Hemden, Jacken und Hosen in unausgefüllte Ladeecken gestopft. Das Ergebnis war erstaunlich: alle aussortierten Kisten fanden schließlich doch noch Platz, was der nächtlichen Ladeaktion eine gewisse Krönung verlieh. Die Mühe hatte sich gelohnt.

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Zwar hatte das Fahrzeug gehörigen Tiefgang, wie ein gut beladenes Lastschiff, doch ich beruhigte mich mit ehrlich gemeinten Schätzungen. Vierzig Kisten, im Schnitt 20 Kilo – und das dürfte noch gut bemessen sein, schließlich waren nicht alle gleich schwer – ergaben 800 Kilo. Dazu die wenigen Möbel, so gesehen musste sich das ganze Vorhaben im Rahmen des vorgeschriebenen Zulademaßes halten und das lag immerhin bei einer Tonne. Eine ganze Tonne! Wahnwitzig viel erschien mir dieses Limit und das beruhigte mich. Und sollten es doch ein paar Kilo mehr sein, darauf durfte es dann nicht ankommen. Die sorgenvolle Nachfrage meines Ladehelfers konterte ich mit einer neuen Hochrechnung. Wenn zulässige neun Personen im Bus sitzen, im Schnitt 80 Kilo pro Nase und Gepäck dazu, dann wären das auch 800 Kilo, dazu die schweren Sitze, die diesmal gar nicht dabei waren. So viel konnten diese Kisten doch nicht wiegen! Die Diagnose: wir hatten insgesamt noch nicht mal eine Tonne geladen. Die Rechnung beeindruckte ihn, er fühlte sich beruhigt.

Meine Gelassenheit erfuhr eine leichte Störung, als die Reise endlich losging. Das sonst so stabil auf der Straße liegende Gefährt zeigte einen leichten Schwimmeffekt. Diese etwas beunruhigende Wahrnehmung wich jedoch schnell der Aufmerksamkeit, welche die Dachladung in Anspruch nahm. Dort war ein Holzschrank mit Regalbrettern und Klamotten aufgebaut, auf geniale Weise gefüllt und abgedichtet – kein Regen würde diesem Verpackungs-Kunstwerk etwas anhaben können. Es war mit äußerster Behutsamkeit verklebt, verschnürt und vergurtet, die Unsicherheit bestand allein darin, dass ich mit solchen Verpackungen nicht gerade geübt war.

Ich hatte mein Bestes gegeben. Was blieb, war ein Restrisiko, ohne konkreten Anlass. Und wirklich, schon nach wenigen Kilometern knatterte die Plastikverkleidung. Schnell wurde eine etwas stabilere Folie übergezogen und verklebt. Es sollte nicht das letzte Mal sein. Zum Einsatz kam das legendäre McGyver-Band, das seinen Namen der Tatsache verdankt, dass der gleichnamige Krimiheld jeder noch so ausweglosen Situation mit Erfindungsreichtum und allen noch so banalen Gegenständen zu entwischen wusste. Dieses Wunder von Klebestreifen konnte sogar bei einsetzendem Regen nachgerüstet werden. Somit war meine Wahrnehmung gezielt auf Dachgeräusche programmiert, jede kleine Lautveränderung nahm ich wachsam wahr und überprüfte sie beim folgenden Halt.

Der Kleinbus hatte zu schleppen, zweifellos, aber sicher nicht mehr als neulich mit einem vollgeladenen Anhänger und sieben Reisebegleitern. Die Fahrt ging voran. Überstanden die erste Grenze, ohne Kontrolle und Beanstandung, die zweite Grenze passiert, die Bediensteten nahmen mich gar nicht erst zur Kenntnis. Mein Optimismus erfuhr leichten Aufwind. Meine schlimmste Befürchtung bestand darin, dass übereifrige Zöllner ihre Neugier austoben und Genaueres über den Inhalt meiner Dachladung sehen wollen könnten. Ein wahrer Alptraum! Denn einmal aufgepackt würde ich das luftige Kunstwerk nie wieder dicht und fest bekommen. Wenn dann ein Regen kam – nicht auszudenken! Dass sich irgendwelche uniformierten Schikaneure dann auch noch an den in Klamotten eingelegten Alkoholflaschen stören könnten, obwohl alle nur noch halbvoll waren, war in dieser Phantasie das kleinere Übel. Doch nichts dergleichen geschah.

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Die Nacht schritt voran, Paris lag hinter mir. Der Regen hatte aufgehört, ich war guter Dinge. Um mir die Beine zu vertreten und routinemäßig die Dachfracht zu überprüfen hielt ich an einer Raststätte. Noch bevor ich aussteigen konnte, sah ich mich drei Gendarmen gegenüber, die zielstrebig auf mein Gefährt zuhielten. Tausend Gedanken auf einmal schossen durch meinen Kopf, wie es eben so ist, wenn einer sich der Dinge nicht ganz sicher ist. Auch wenn von einem schlechten Gewissen nicht die Rede sein konnte. Aber Polizisten lösen keine Probleme, sie schaffen sie, das hatte mich meine bisherige Lebenserfahrung gelehrt. Das Erstarren des Hasen vor der Schlange. Zeitgenossen, wie jene vor meiner Scheibe, würden sicher etwas finden, wenn sie nur wollten. Blieb die Frage, wollten Sie?

„Papiere! Verstehen Sie französisch?“ fragten sie. Nein, nur Englisch und Spanisch, gab ich vor, sie sollten kein leichtes Spiel haben. Vielleicht verminderte ein Sprachdurcheinander ja ihre lästige Neugier. Sie bestanden auf Französisch, redeten auf mich ein, zu schnell ließ ich mich überrumpeln und kramte in der Not nach fast vergessenen Wortbrocken. „Sie haben zu viel geladen.“ Auch mit schlechten Französischkenntnissen war das nicht mißzuverstehen. „Das glaube ich nicht“, versuchte ich zu beschwichtigen, muss dabei jedoch eher hilflos als überzeugend gewirkt haben. „Sie kommen aus Deutschland und wohin fahren Sie?“

Europaweit, vielleicht weltweit und in Frankreich sowieso, genossen Bilbao und das Baskenland eine durchweg negative Berühmtheit. Daran hat auch das Guggenheim-Museum nichts geändert. Eine Antwort in diese Richtung kam also auf keinen Fall in Frage, wollte ich nicht Hunde wecken, die hoffentlich noch schliefen. Ich griff zur Antwort, die zwar nicht falsch war, aber doch politisch unkorrekt. Eigentlich pflegte ich sie nur dann zu benutzen, wenn ich es mit besonders hartnäckigen oder ignoranten Gesprächspartner*nnen zu tun hatte: „Nach Spanien.“

Sie gingen dem Reiseziel nicht weiter auf den Grund, zum Glück, zu sehr war Bilbao derzeit in aller Munde. Nach hoffnungsvollen eineinhalb Jahren war der Waffenstillstand zu Ende gegangen. Das dürfte sich auch in Frankreich herumgesprochen haben. Ich kannte eine ganze Reihe von Geschichten, bei denen Leute nur aufgrund ihrer Bilbao-Autonummer von Sicherheitskräften schikaniert wurden.

Wenige Minuten brauchten die drei Blauen, um die Papiere zu überprüfen, Minuten von Hoffen, Bangen und Spekulieren. Sie unterhielten sich, schienen zu diskutieren, gaben mir schließlich den Fahrzeugschein zurück, den Führerschein nicht. Hatten sie die Geschichte mit dem Gewicht fallen gelassen? Nein, hatten sie nicht! „Wir wollen Ihr Fahrzeug wiegen.“ Eine trockene Feststellung, die keinerlei Spielraum ließ und wie ein Stein an die Schläfe traf. Mein Kopf dröhnte stumm. Mein abwiegelndes Gefasel beeindruckte sie nicht.

„Können Sie uns hinterherfahren?“ Eine dieser Fragen, deren suggestiver Charakter die Antwort überflüssig macht, weil sie gar nicht erwartet wird. Ein schlichter Befehl. In meiner Betäubung stimmte ich zu. Auch in der verzweifelten Hoffnung, die Zurschaustellung eines guten Gewissens könnte das Unaufhaltsame vielleicht doch noch verhindern. Ich nahm mich zusammen, versuchte Gelassenheit zu demonstrieren und fragte, wie weit es denn sei, so als würde es sich lediglich um ein technisches Detail im Gespräch unter Freunden handeln. Auch diese Botschaft verfehlte ihr Ziel. Nur wenig später sollte ich wissen, dass es um die dreißig Kilometer bis zur nächsten Stadt und Gendarmerie waren.

Dreißig Kilometer Zeit, um mit zittrigen Fingern eine Zigarette rauszufummeln, ganz gegen meine Gewohnheit. Dreißig Kilometer, mich zu beruhigen, gedanklich zum Ausgangspunkt der ganzen Geschichte zurückzukehren. Die Hochrechnungen konnten beim besten Willen so falsch nicht gewesen sein. Mehr als hundert Kilo zu viel konnten es ganz bestimmt nicht sein. Sollten sie mir dennoch eine Strafe aufbrummen und mich meines Weges ziehen lassen!

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Sie fuhren langsam genug, damit ich hinterher kam. Hinter einer Peage-Station kam es zu einem unerwarteten Halt. Dort wartete ein voll besetzter Bus mit aufgeregten marokkanischen Frauen, Männern und Kindern. Einige Männer, ihre Kinder demonstrativ auf dem Arm tragend, gestikulierten heftig vor den Gesichtern von Gendarmen. „Was soll diese Belästigung mitten in der Nacht?“ – könnte eines ihrer Argumente gewesen sein. „Sehen Sie nicht wie unsere Kinder leiden?“ – Vielleicht auch: „Unsere Hautfarbe gefällt euch wohl nicht!“ – Doch war ich in diesem Augenblick mit mir selbst beschäftigt, und konnte jenem Problem nicht folgen, das einen politischen Beigeschmack hatte und fünfzig Personen betraf.
Stattdessen weiter Richtung Stadt. Schon einmal war ich nachts durch Orleans gefahren, mit einer Horde übermüdeter und schlecht gelaunter Jugendlicher, auf der Suche nach einem gebuchten Nachtquartier. Damals freiwillig, nicht wie jetzt. Eine weitere Zigarette vernebelte den Bulli. Ohne die Schlepper aus den Augen zu verlieren fingerte ich nach meiner Lesebrille und zerrte aus dem Portemonnaie den Fahrzeugschein, um mich erneut von den dort angegebenen Gewichtsgrenzen zu überzeugen. Nur zur Bestätigung. Eins Komma acht sechs fünf Tonnen leer, zwei Komma acht zulässiges Gesamtgewicht – also knapp eine Tonne Zuladung. Noch eine Zigarette zur Beruhigung.

Die Gendarmerie hatte offenbar keine eigene Waage, also wurde ich zur nahegelegenen Müllverbrennungs-Anlage geleitet. Plötzlich war der marokkanische Bus wieder da. Das gleiche Schicksal. „Können Sie den Bus bitte vorfahren lassen?“ Klar konnte ich – eine Gelegenheit, den Vorgang zu beobachten, der mir bevor stand. Grund zur Beanstandung gab es bei Marokko offenbar nicht. Also doch Schikane. Sie fuhren wieder los, nicht ohne durch die Scheiben wütende Gesten in Richtung der Gendarmen zu machen. „Rassistenpack!“

Die Stunde der Wahrheit, nun war ich an der Reihe. Der Gang zur Urteilsverkündung. Eine Hoffnung hatte ich noch, für den Moment vor dem Vollzug:aus dem Wagen aussteigen vor dem Wiegen, um noch ein paar Kilo zu schinden. Doch auch das hatten sie auf der Rechnung, ich musste drin bleiben.

„Sie haben drei Komma acht Tonnen, eine Tonne zu viel!“ Es war wie eine Ohrfeige. Als ich „das glaube ich nicht“ sagte, war ehrlich gemeint, doch es nützte nichts. Was mir da gerade vorgehalten wurde, war so unglaublich, es musste ein Irrtum vorliegen, der sich mit vernünftigen Argumenten aufklären lassen musste. Ich stieg aus, um mich von der Anzeige zu überzeugen. Drei Komma acht zeigte die Quarzanzeige an. Sie musste falsch sein! Das übertraf alles.

Nicht einmal im schlimmsten Fall hatte ich ich mir dieses Resultat vorgestellt. Eine ganze Tonne Übergewicht, tausend Kilometer gefahren, das widersprach doch jeglicher physikalischen Regel! Ob sie mich bescheißen wollten? Ich fand keine Argumente, mir fehlten die Vokabeln, um einen letzten Anlauf schlüssiger Argumentation zu unternehmen, um das Unvermeidliche zu verhindern. Was immer es sein konnte. „Sie müssen ausladen. Fahren Sie uns hinterher zur Gendarmerie.“

Erneut Zeit zum Nachdenken, nun ging es zum Revier, oder wie die Franzosen dazu sagen. Was konnte die Strafe sein? Zum Entladen konnten sie mich nicht zwingen, sie konnten mich allenfalls am Weiterfahren hindern. Denn nichts einfacher als ein Fahrzeug zu stoppen, das nicht den Regeln entspricht. Ausladen hatten sie gesagt – wollten sie mir etwa ein kommerzielles Aufbewahrungsdepot vermitteln, wo ich ausladen sollte? Ich ging die Möglichkeiten durch. Als wir die Gendarmerie betraten, wurde der Ton umgänglicher. Hier waren sie zu Hause, hier wurden die Jungs lockerer. Ich bekam sogar Kaffee. Keine Vorwürfe, keine blöden Fragen wie „ist Ihnen denn gar nichts aufgefallen beim Fahren?“ oder moralische Vorhaltungen vom Typ „was hätte nicht alles passieren können, haben Sie nicht an andere Verkehrsteilnehmer gedacht?“ Formulare, Daten, Rechts-Belehrungen, Unterschriften, Zahlen, alles in allem ein emotionsloses bürokratisches Prozedere nachts um elf. „Six cent francs.“

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Eine gewisse Erleichterung überkam mich, als ich die Zahl hörte. Das hätte schlimmer kommen können, 600 Francs Strafe, bei einer Tonne Übergewicht, fast schon billig, wenn zwanzig Kilometer zu schnell schon 2.000 kosten können. Da ich nur noch 200 in der Tasche hatte, fragte ich, ob Kartenzahlung möglich sei. Ein Zeigefinger bewegte sich vor meinem Gesicht hin und her. „Wir begleiten Sie zur nächsten Bank.“

Die Zahl beruhigte mich etwas. Aber die Geschichte war ja noch nicht zu Ende. Vielleicht sollte ich nicht zu ruhig bleiben, dachte ich plötzlich. Sie könnten denken, dass da noch mehr im Busch sei, wenn ich zu gelassen bliebe. Ob du Rabatz machst oder alles widerspruchslos hinnimmst, immer weckst du Verdacht, ob als Querulant oder als Nichtquerulant. Für die Polizei bist du immer auffällig, das ist ihre Logik. Wäre es nicht so, wäre sie überflüssig. In meinem Fall hatten sie die Dachladung noch nicht ins Auge gefasst. Mein Kunstwerk und zugleich Damoklesschwert!

„Sie müssen einen Teil ausladen.“ Da war er also wieder, dieser zweite Urteilsspruch, freundlich aber bestimmt, ohne Spielraum für etwaige Verhandlungen. Sie besprachen sich und schienen etwas zu diskutieren. „Die Sachen können hier in der Garage bleiben.“ Die Umstände machten deutlich, dass dies kein alltäglicher Vorgang war. Denn zugleich wollten sie wissen, wann ich wiederkomme. Welch eine Frage! Die glaubten wohl, ich würde eine Gelegenheit suchen, billig meinen Krempel loszuwerden! Ich war noch nicht am neuen Wohnort angekommen, hatte noch nicht ausgeschlafen nach der stressigen Alleinfahrt, hatte noch nicht ausgeladen, hatte noch keine Auslade-Helfer*nnen organisiert – und die hier wollten wissen, wann genau ich wieder zurück sei! „Sie müssen uns versprechen, dass Sie spätestens in drei Tagen die Sachen abholen.“ Das hätte nun wirklich keiner Aufforderung bedurft! Die Müllverbrennungsanlage war ja nur 30 Kilometer weg, das wusste ich: keine Sekunde länger als irgend nötig würde ich ihnen meine vertrauten Sachen überlassen.

Es war eine jener Situationen, in denen du bis zum Ende nicht sicher sein kannst, ob sie wirklich sind. Oder nur ein Alptraum. Geschichten, bei denen du nicht aufhörst, ungläubig den Kopf zu schütteln. In einer unbekannten Stadt wegen eines Verkehrsvergehens den Hausstand ausladen, zurücklassen, zurückkommen, um ihn wieder einzuladen, um ihn dann definitiv wieder auszuladen. Surrealistisch, aber nicht zu verhindern, ich selbst konnte mich der Verantwortung nicht entziehen. Gehe zurück nach der Badstraße, drei Runden aussetzen und zum Neustart eine Sechs würfeln.

Der jüngste der drei beteiligten Polizisten wurde abkommandiert, mich beim Ausladen zu begleiten. Um die zwanzig musste er sein. Jede Kiste begleitete er mit zwei Fragen: „Ist die schwer?“ und „Ist da was Wichtiges drin?“ Eine gewisse Empathie war ihm nicht abzusprechen. Nach dem Motto, dem bemitleidenswerten Opfer wenigstens das Wichtigste zu lassen. Sicher wusste er, wie weit es noch zur spanischen Grenze war. Und wieder zurück. Er inszenierte das Theaterstück nicht nur, sondern wirkte auch noch bei der Vorführung mit. Tatkräftig, selbst die beiden vollbeladenen Metallschränke, sicher hundert Kilo pro Stück, nahm er mit französischer Gelassenheit zur Kenntnis und packte an.

Als für meine Begriffe die halbe Ladung raus war, begann ich zu befürchten, dass wir zu viel ausladen und die zusätzliche Strafetappe zu einer Fahrt vom Regen in die Traufe werden könnte. Denn es war schwierig einzuschätzen, wieviel Gewicht schon raus und wieviel noch drin war, ohne jedes einzelne Teil auf die Waage gelegt zu haben. Genau die Hälfte musste es sein. Einmal hatte ich mich ja schon fatal geirrt. Doch wiegen war im Revier bekanntlich nicht angesagt. Der junge Gendarm lud emsig weiter aus, vielleicht aus Angst, seinen Dienstälteren Rechenschaft ablegen zu müssen, wenn beim erneuten Wiegen erneut Übergewicht angezeigt würde. Er wirkte eifrig, fast so als hätte er plötzlich Gefallen gefunden an der Sache. Meine zaghaften Bremsversuche ignorierte er, vielleicht verstand er sie auch ganz einfach nicht. Schließlich beendete er die Laderei.

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Da standen sie nun, meine geliebten Bücher und Lebensutensilien, die im Vorfeld des Umzuges schon gründlich reduziert worden waren: die „blauen Bände“, die besonders schwer wogen – der Schrank mit dem Aufkleber „Nicht alle Mörder sind Soldaten“, einen Satz, den der junge Polizeihelfer nicht mal auf französisch verstanden hätte, denn Tucholsky und die deutsche Militaristen-Debatte konnte er einfach nicht kennen – „Solidaridad con Cuba“ schon eher. Die ganze Situation war wie ein Verhör, wie ein erzwungener Seelen-Striptease, so wie die Gewissensprüfung damals bei der Kriegsdienstverweigerung: zeig mir deine Bücher und ich sag dir wer du bist.

Was einst den vertrauten Rahmen meines Arbeitszimmers zierte und nur Augen von ausgewählten Freund*nnen sehen konnten, war ab jetzt dem Zugriff staatlicher Ordnungskräfte ausgeliefert. Zwei Tage hatten sie Zeit, sich unbeobachtet in ihre Beute zu vertiefen. Was für eine Vorstellung! „By any means nessesary“, das berühmte Zitat von Malcolm X, in katalanischer Sprache, wäre bei der Ähnlichkeit mit der französischen Sprache durchaus zu entschlüsseln gewesen und könnte zum Nachdenken anregen. Doch welcher französische Polizist kennt heute noch Malcolm X.

„Stop the execution of Mumia Abu-Jamal“ klebte daneben. Ich fragte mich, ob der Polizeikollege wohl zur Kenntnis nehmen würde, was er da auslud. Würde er dem Offensichtlichen auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenken, könnte er fragen, wem da die Exekution bevorsteht und aus welchem Grund. Einem schwarzen Amerikaner aus der Black Panther Party, hätte ich geantwortet, würde ich Mumia nicht verleugnen wollen, wie Judas seinen Chef. In Anbetracht seines Alters bestand große Wahrscheinlichkeit, dass ihm all das kein Begriff wäre. Schon eher, wenn er erführe, was dem Abgebildeten vorgeworfen wird: einen Polizisten erschossen zu haben. „Einen Polizisten also, sozusagen einen wie mich. So so, interessant! Angeblich unschuldig. Na ja, wer würde das schon freiwillig zugeben“, hätte der Nachwuchsbüttel dann zwangsläufig gedacht und die Gegenstände, die er vor sich hatte, mit anderen Augen begutachtet.

„Freiheit fürs Baskenland“ stand da schließlich auf einem weiteren Aufkleber. Baskenland, Baskenland – war da nicht etwas? Wäre der junge Uniformierte mit seinen Beobachtungen und Überlegungen erst einmal so weit gewesen, hätte er sich vielleicht auch an ein polizeiinternes Informations-Blatt erinnert. Darauf stand, dass der Sprengstoff, den bretonische Separatisten zusammen mit ETA-Aktivisten im vergangenen Jahr gestohlen hatten, noch nicht wieder gefunden war. Und dass auf unabsehbare Zeit von heimlichen Sprengstoff-Transporten seitens der Räuber ausgegangen werden müsse. Deshalb sei für alle Sicherheitskräfte äußerste Aufmerksamkeit angesagt. Diese Gedankenkette war weder absurd noch weit hergeholt. Hätte sie sich im Kopf des jungen Gendarmen breitgemacht, hätte er mit Sicherheit einen erfahrenen Kollegen zu Rate gezogen. Eine Lawine wäre ins Rollen gekommen!

Solche Phantasien gingen mir durch den Kopf. Mit fortschreitender Zeit kam mir mehrfach der Gedanke, Teil einer makabren Inszenierung zu sein. Mitunter gesellte sich zu meiner Sorge die bittere Heiterkeit, dass das Ganze nur ein schlechter Traum oder ein billiger Witz sein könne. Die banale Wahrheit war, dass dem mittlerweile schwitzenden Mithelfer in der blauen Uniform das alles offenbar ziemlich gleichgültig war. Er beschränkte sich darauf, die unmittelbare Anweisung zu befolgen. Die bestand nach seinem Verständnis aus dem Verlagern von Gewichten. Mein Urteil wurde zur Bewährung ausgesetzt, vorläufig wurde ich auf freien Fuß gesetzt und in die Nacht entlassen.

Es folgten qualvolle Stunden auf der Autobahn, mit nagenden Zweifeln, wenig Schlaf sowie verschiedensten Strategien, gegen die Müdigkeit anzugehen. Pause und Ausruhen konnte ich mir nicht leisten. Denn nun hatte die Gendarmerie alle Zeit der Welt, den Fang in Ruhe zu inspizieren, zu prüfen, um welche Art von Büchern es sich handelte und ob da nicht vielleicht doch noch ein „Zufallsfund“ dabei sein könnte. Sie hatten die Möglichkeit, einmal mit dem Radargerät drüberzugehen, mit einem Geigerzähler für Munition.

Sie taten es nicht, denn ebenso freundlich und routinemäßig vollzog sich das Wiedereinladen nach nicht ganz zwei Tagen. Im vorgegebenen Zeitlimit, versteht sich. Als ich Tage später baskischen Freunden mein Abenteuer zum Besten gab, lachten diese herzlich. „Stell dir vor, du hättest zwei Tonnen Dynamit im Wagen gehabt und die Hälfte davon verwahren sie drei Tage lang in irgendeiner französischen Gendarmerie-Garage. Die Polizei, dein Freund und Helfer!“ – Was für eine Vorstellung! Wir begannen, weiter herumzuspinnen und stellten abenteuerliche Mutmaßungen an.

„Angenommen, du hättest wirklich Tetadine oder TNT an Bord gehabt und sie hätten dich später erwischt, was glaubst du, welch ein Skandal das gewesen wäre!“ – Wir kriegten uns nicht mehr ein vor Lachen. „Ich stelle mir gerade die Schlagzeilen in der Presse vor: ‘Gendarmen helfen Terroristen beim Bombentransport‘. Denn über ihre internationalen Fahndungskanäle hätten sie zwangsläufig gemerkt, was in Orleans geschehen ist.“

„Fingerabdrücke von Polizisten hätten sie gefunden. Da wäre sicher nicht nur einer suspendiert oder zum Rücktritt gezwungen worden.“ – „Eine echte Real-Satire.“ – „Und Aznar hätte einen guten Grund gehabt, gegen die Franzosen zu toben.“ – „Dynamit war es zwar nicht“, sagte ich wieder etwas nüchterner, „aber einige Bücher von Karl Marx.“ – „Das ist ja noch schlimmer! Nicht weniger explosiv!“ Die Belustigung ging von Neuem los. „Wenn du sie nicht erlebt hättest, müsste man diese Geschichte erfinden,“ sagte schließlich einer der Freunde.

Im diesem Moment fiel mir eine Tagesnotiz ein, die ich angesichts der vielen Meldungen des Tages fast vergessen hatte. Die Nachricht von einem Kleinbus, der vor Monaten einer Polizeistreife in Katalonien aufgefallen war. Weil der Wagen offensichtlich völlig überladen war wurde er gestoppt. Gefunden wurde ein Teil des in der Bretagne gestohlenen Sprengstoffs. Der Gedanke ließ mich ein letztes Mal zittern.

Ausgesprochen froh war ich, für das Abenteuer „nur“ sechshundert Francs bezahlt zu haben. Denn wer verzichtet schon gerne auf eine Anekdote, die in jeder munteren Runde gut ankommt und zum Lachen führt. Im Baskenland wird gerne und viel gelacht. Vor allem über sich selbst und den erlittenen Schaden. Je zynischer und sarkastischer, desto herzlicher. Obwohl oder weil die Geschichte unglaublich ist. Zugegeben, bis heute kommen mir noch Zweifel.

ANMERKUNG:

(*) Die Erzählung wurde der Redaktion Baskultur.Info vom Autoren zur Verfügung gestellt, sie stammt von Oktober 2000, er legt keinen Wert auf Namensnennung

ABBILDUNGEN:

(*) Reisefotos, Foto Archiv Txeng

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