Gioconda Belli und die Poesie der Revolution
Gioconda Belli (1948, Managua) kämpfte in der FSLN für die sandinistische Revolution (1979) und wird bis heute nicht müde, sich über die repressive Regierung ihres ehemaligen Mitstreiters Daniel Ortega zu empören und den verlorenen Idealen der Revolution nachzutrauern. Damals in bewegten Zeiten wie heute im erzwungenen Exil hat sie aus dem weiblichen Körper einen Schützengraben gemacht, um Frauen zu befreien und ungezähmt zu machen. Es gelang ihr, viele Frauen aufzurütteln, die diese Körper bewohnten.
Die Sandinistin, Feministin und Schriftstellerin Gioconda Belli ist den alten Idealen aus der Zeit des Kampfes gegen die Somoza-Diktatur treu geblieben und kritisiert den Autoritarismus des heutigen Präsidenten Ortega.
Als Dichterin und Romanautorin wurde Bellis Talent weltweit anerkannt und ausgezeichnet, seit ihrem ersten Buch "Sobre la grama" (Über das Gras, freie Übersetzung) aus dem Jahr 1972, in dem sie in poetischer Form und mit großer Natürlichkeit den weiblichen Körper und die Sexualität behandelte. Wie viele nicaraguanische Intellektuelle ihrer Zeit schloss sie sich der Sandinistischen Front zur Nationalen Befreiung (FSLN) an und erlebte den Triumph der Revolution. Sie bekleidete wichtige Regierungsämter, verband diese aber mit ihrer Hingabe an die Literatur, insbesondere dem Roman, einem Genre, in dem sie sich ebenfalls auszeichnete. Sie schrieb berühmte Titel wie "La mujer habitada" (Die bewohnte Frau), der über die Existenz als Buch hinausging und zu einem Symbol wurde.
Sie kam nach Euskal Herria, um an der neuen Ausgabe von der Literaturreihe BilbaoPoesía teilzunehmen, wo sie in einem Vortrag mit dem Titel "Furiosamente Piel" (Wütende Haut) anhand ihrer Gedichte einen Einblick in ihr Werk und Leben gab. Vor der Veranstaltung gab sie mit dem ihr eigenen Elan ein Interview. Mit ihrem analytischen Blick und freundlicher Offenheit sprach sie über ihr Land, mit Schärfe und Schmerz, über Feminismus, mit Hoffnung und Überzeugung, und über Literatur mit Leidenschaft und unbändiger Kraft. (1)
INTERVIEW:
Sie haben Nicaragua als Sisyphos-Land bezeichnet. Es ist denn so schwer, den Stein ganz nach oben zu heben, nur um zu sehen, wie alles wieder zusammenbricht. Nicaragua tut weh, nicht wahr?
Es tut sehr weh. Das erste Zeichen zu setzen war sehr hart! Wir haben viele Leute verloren! Stell dir vor, ich gehörte zu einer Zelle, die aus zehn Personen bestand. Nur zwei von uns blieben am Leben. Ich habe meine Freunde sterben sehen. Wir mussten alle ins Exil gehen, ich nach Mexiko und Costa Rica. Und wenn du das siehst, wie der Stein noch oben gehievt wird, wenn du den Gipfel erreichst und das Gefühl hast, dass etwas so Wichtiges und Schwieriges existiert, und plötzlich siehst, wie der Stein abstürzt, dann ist das sehr hart. Denn es war kein Absturz, der durch die Schwierigkeiten des Contra-Krieges verursacht wurde, sondern einer, der durch den Ehrgeiz eines Menschen verursacht wurde, der die Wahlniederlage von 1990 nicht verkraften konnte und um jeden Preis an die Macht zurückkehren wollte. Dieser Preis beinhaltete den Verlust der Prinzipien, all dessen, wofür die Revolution stand. Er weigerte sich, die Partei zu demokratisieren, als Oppositions-Partei in eine andere Dynamik einzutreten. Wir hatten 42% als wir die Wahlen verloren. Das hat uns dazu gebracht, zu verstehen, wer Daniel Ortega ist, dass er seinen menschlichen und ethischen Kurs verloren hat und Nicaragua in ein Gefängnis verwandelt hat.
Der Sandinismus hat Millionen von Menschen inspiriert, Illusionen geweckt und politisiert. Wie können die Erinnerung daran, die Größe seiner Geschichte und die seiner Protagonisten bewahrt werden, ohne sie zu beschmutzen?
Derjenige, der sie am meisten besudelt hat, ist Daniel Ortega. Man kann es kaum glauben, dass er Dora María Téllez, Hugo Torres, Víctor Hugo Tinoco ins Gefängnis gebracht hat, Menschen, die alles für die Revolution gegeben haben. Hugo Torres hat 1974 an einer Aktion teilgenommen, bei der er Daniel Ortega aus dem Gefängnis befreit hat. Er hat sein Leben riskiert, um ihn aus dem Gefängnis zu holen, und Ortega hat ihn ins Gefängnis gesteckt, weil er sich ihm widersetzt hat. Dora María Télllez war die Frau, die die erste Stadt in Nicaragua befreit hat, mit einem weiblichen Generalstab. Wenn sie die Stadt nicht befreit hätte, hätte Daniel Ortega nicht landen können. Ortega hat sie angegriffen, er hat uns angegriffen, mit Bösartigkeit und mit Rache. Andererseits ist die Bedeutung von Daniel Ortega in der Revolution übertrieben, absolut übertrieben. Bis zum Ende war er einer von vielen. Als wir triumphierten, wurde beschlossen, dass er Teil der Regierungsjunta sein sollte, aber nicht, weil er die Revolution angeführt hatte. Ortega war die meiste Zeit in Costa Rica.
Es gibt also keine Möglichkeit, sich eine gesunde Erinnerung zu bewahren?
Das Problem ist, dass seit 2018, als die Proteste der Menschen mit so viel Gewalt unterdrückt wurden, so viele Gräueltaten geschehen sind. Wenn junge Leute jetzt Sandinismus sagen, meinen sie Somozismus. Das ist furchtbar traurig. Ich verstehe, was Sie mich fragen. Für mich wird die Heldentat des Sturzes von Somoza immer heldenhaft sein. Sie wird in meinem Gedächtnis in epischen und goldenen Buchstaben eingraviert bleiben, aber für die jungen Leute heute bedeutet Sandinismus nichts anderes als Unterdrückung.
Sie sind zum zweiten Mal ins Exil gegangen, nun als Großmutter. Kaum vorstellbar.
Ich denke nicht allzu viel darüber nach, denn wenn ich das tue, werde ich depressiv. Ich lebe von einem Tag zum anderen. Aber ja, es ist eine Grausamkeit, auf die Sie hinweisen. Als ich das erste Mal ins Exil ging war ich 25 Jahre alt – jetzt, mit 74 Jahren erneut ins Exil zu gehen, ist eine andere Sache. Gesagt zu bekommen, dass du kein Haus mehr hast, dass du nirgendwohin zurückkehren kannst, dass du aus den Annalen Nicaraguas gelöscht werden sollst, aus dem Standesamt. Dass sie uns zivilrechtlich umbringen, dass sie uns unsere Altersversorgung wegnehmen, dass sie unsere Bankkonten schließen und dass sie mir mein Haus weggenommen haben. Ich kann nirgendwohin zurückkehren. Das ist eine Grausamkeit, die man sich von einem Revolutionär nicht vorstellen kann. Dieser Mann verteidigt nur ein persönliches Projekt, keine Revolution. Wir sind weder die Yankees noch der Imperialismus, das ist eine verlogene Behauptung, um seine Fanatiker zu überzeugen, die immer weniger werden.
Dichterin, Schriftstellerin, Aktivistin, Feministin, Kämpferin für Gleichberechtigung ... Wer ist Gioconda Belli?
Ich bin einfach eine Frau, die intensiv gelebt hat, die das Leben bei den Hörnern gepackt hat und die versucht hat, Spuren zu hinterlassen. Ich habe versucht, das zu tun, was Aristoteles sagte: Der Sinn des Lebens besteht darin, sein Potenzial zu nutzen und es auszuschöpfen.
Wie gehen Sie damit um, eine Schriftstellerin zu sein, die Fragen zur Politik beantworten muss? Wie ist die Beziehung der Künstlerin zu dem politischen Subjekt, das in Ihnen steckt?
Ich war ein politisches Subjekt, weil ich Nicaraguanerin bin, denn um mit uns selbst im Reinen zu sein, mussten wir damals an den Geschehnissen im Land beteiligt sein und gegen die Diktatur kämpfen. In gewisser Weise sind mein Schriftstellerdasein und meine politische Praxis gleichzeitig entstanden. Ich war ein Mädchen, stellen Sie sich vor, mit 18 habe ich geheiratet, mit 19 bekam ich meine erste Tochter, ich stammte aus einer Familie, die gegen das Somoza-Regime stand. Ich traf Genossen von der Sandinistischen Front, Künstler und Dichter, sie überzeugten mich, dass der bewaffnete Kampf der einzige Weg war. Da spürte ich, dass mein Leben mehr Sinn machte, dass ich bereits eine Aufgabe im Leben hatte. Deshalb ist mein Schreiben eng mit dem Kampf gegen die Diktatur in Nicaragua verbunden. Einmal war ich an der Reihe, jetzt bin ich ein zweites Mal dran.
Mit Poesie kann man keinen Krieg gewinnen, aber ohne sie kann man ebenfalls nicht hoffen, ihn zu gewinnen.
Ich kann mir die Sandinistische Revolution nicht vorstellen ohne die Poesie von Ernesto Cardenal, ohne die Musik von Carlos Mejía Godoy, ohne die Beteiligung der jungen Dichter jener Zeit. Wir haben die Anstrengungen, eine vom Ungeheuer Somoza befreite Republik zu werden, in Worte gefasst. Das Wort ist von grundlegender Bedeutung, denn es ist das, was unsere freiheitlichen Gefühle zum Ausdruck bringt.
Die selbstbestimmte Frau steht im Mittelpunkt ihrer Arbeit.
Ich gehe davon aus, dass die Welt der Zukunft gerechter sein wird. Eine der größten Ungerechtigkeiten, die wir Menschen erlebt haben, ist die Marginalisierung der Frau aufgrund ihrer Biologie, ihrer Fähigkeit zur Fortpflanzung. Die Funktion der Fortpflanzung, die ein Grund dafür sein müsste, Frauen als Königinnen zu haben, hat uns an den Rand gedrängt, in der Geschichte unsichtbar gemacht.
Sie mussten zwischen diesen beiden Paradigmen leben: der verführerischen Eva und der Jungfrau Maria.
Richtig. Auf gewisse Weise wird von uns Bescheidenheit erwartet, wir sollen "anständige" Frauen sein, zumindest meine Generation. Das ändert sich zwar langsam, aber selbst von jungen Mädchen wird immer noch ein bestimmtes Aussehen, ein bestimmtes Aussehen verlangt. All diese Anforderungen an die modernen Frauen haben mit dem Bild zu tun, das die männliche Literatur konstruiert hat. Die Frauenliteratur steckt noch in den Kinderschuhen.
Wie gehen Sie damit um, dass Sie von manchen immer noch als "Dichterin der Erotik" angesehen werden?
Ich bin immer noch erotisch, das ist eine andere Sache. Wenn ich ein 74-jähriger, gut aussehender Mann wäre, würde ich nicht als erotisch oder nicht erotisch abgestempelt werden. Hinter diesem Etikett steckt ein falsches Bild von Frauen. Wenn wir Frauen dieses Alter erreichen, hören wir auf, körperlich fruchtbar zu sein. Auf der anderen Seite haben wir all die Erfahrung, all das, was wir erlebt haben, wir haben der Menschheit viel zu geben, wir sind keine alten Damen, die wie traditionelle Großmütter zu Hause bleiben.
In dieser Welt, die aus den Fugen geraten zu sein scheint, voller Schlechtigkeit und Lügen, sagen Sie mir doch bitte, dass auch die Pessimisten Unrecht haben.
Tausendmal lieber bin ich optimistisch als pessimistisch, selbst wenn ich falsch liege. Es ist wie mit dem Vertrauen: Ich vertraue lieber Menschen, als dass ich nicht vertraue, denn das macht mich glücklicher. Die Welt hat sich so sehr verändert, wir machen Krisen durch, aber es gibt auch bedeutende Fortschritte. Wir machen Fortschritte, und ein Teil dieses Fortschritts sind diese Konflikte.
ANMERKUNGEN:
(1) “El poder a cualquier precio incluyó perder lo que significó la Revolución” (Macht um jeden Preis beinhaltet auch den Verlust dessen, was die Revolution bedeutete), Tageszeitung Gara, 2023-04-19 (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Gioconda Belli (naiz)
(2) Nikaragua (dw)
(3) Gioconda Belli (naiz)
(4) Nikaragua (bbc)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2023-04-26)